Für die indigenen Völker Amerikas verdeutlicht Standing Rock Jahrhunderte des Konflikts

Pierre-Servan Schreiber reiste nach Arizona, um die Katsina zurück zu den Hopi zu bringen. © Jean-Patrick Razon/Survival

Standing Rock hat gezeigt, welche Macht Menschen haben, die für ihr Leben, ihr Land und für ihre Menschenrechte eintreten.

Als das US-amerikanische Militär Ende 2016 ankündigte, es werde nicht zulassen, dass die Dakota Access Pipeline das Land und die Wasserressourcen des Volkes der Standing Rock Sioux gefährde, war dies ein beachtlicher Meilenstein des indigenen Widerstands in Amerika. Auch wenn dieser Teilsieg nicht von Dauer war, so ist er es dennoch wert, beachtet zu werden.

Apachen-Kinder nachdem sie von ihren Familien getrennt und auf Schulen geschickt wurden. USA, 19.Jahrhundert. © Agfa foto-Historama

Gleichzeitig ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir die vielen ähnlichen Auseinandersetzungen, mit denen indigene Völker rund um die Welt konfrontiert sind, nicht aus dem Blick verlieren. Die Bilder der Proteste in Standing Rock gehen weltweit durch die Medien. Sie könnten vom Buschland Patagoniens bis hin zu den eisigen Weiten der Arktis nicht nur Inspiration sein, sondern vielleicht sogar entscheidender Wendepunkt.

Von den Hunderten wirkmächtiger Fotos, die von der ungewöhnlichen Konfrontation zwischen den Demonstranten der Sioux und der Polizei North Dakotas im Netz zirkulierten, springt eines vielleicht besonders ins Auge. Es zeigt einen jungen Native American, der in Jeans, Cowboystiefeln und etwas, das einer improvisierten Gasmaske ähnelt, auf einem Pferd sitzt und auf eine Polizeiabsperrung blickt. Hinter einer provisorischen Mauer aus Holz und ausgedienten Reifen steht eine Phalanx uniformierter Polizisten, in Schutzhelmen und mit hölzernen Schlagstöcken in den Händen. Sie werden flankiert von bewaffneten Fahrzeugen, die auch im Krieg im Irak oder in Afghanistan hätten stehen können.

Das Bild ruft Erinnerungen an Bürgerrechtskämpfe der jüngeren Vergangenheit hervor. Die Polizisten in ihren braunen Hemden und ihren Machoposen sehen sogar so aus wie die Männer im Alabama der 1960er-Jahre, die dabei fotografiert wurden, wie sie Wasserwerfer und Hunde auf afroamerikanische Demonstranten losließen. Geht es um die indigenen Völker auf dem amerikanischen Kontinent, hat dieses Bild jedoch eine noch ältere Geschichte. Bei den Polizisten, die die kommerziellen Interessen eines großen Ölkonzerns schützen, handelt es sich lediglich um die jüngsten Vertreter kolonialer Mächte, die sich seit 1492 indigenen Lands und indigener Ressourcen bemächtigt und jeden Widerstand erbarmungslos niedergeschmettert haben.

Würde es sich bei der Dakota Access Pipeline um den einzigen Kampf dieser Art handeln, der 2017 auf der amerikanischen Halbkugel ausgetragen wird, wäre es ein leichtes, die Bemühungen um Menschenrechts- und Umweltschutzkampagnen zu bündeln. Leider handelt es sich dabei jedoch lediglich um das bekannteste und am häufigsten veröffentlichte Beispiel für die Konflikte um Land und Ressourcen, die sich entfalten, während Sie diese Zeilen lesen.

In den landwirtschaftlichen Plantagen Zentralbrasiliens kämpft das Volk der Guarani-Kaiowá jeden Tag auf fruchtbarem, rotem Boden, der einst Wald gewesen war, für sein Land. Der Kampf ist bereits seit Jahrzehnten im Gange, und in dieser Zeit konnten nur sehr wenige Erfolge errungen werden. Trotz ihres entschlossenen Widerstands gegen die Rancher, die ihr Land stehlen, und gegen die bewaffneten Söldner, die ihre Gemeinden nahezu täglich schikanieren, haben viele Guarani doch die Hoffnung aufgegeben. Die Guarani-Kaiowá leiden unter der höchsten Selbstmordrate der Welt, die unter jungen Erwachsenen und Jugendlichen zudem überproportional hoch ist. Viele von ihnen sind heute gezwungen, am Straßenrand zu leben. Das Wasser, das sie trinken, ist kontaminiert von Pestiziden, die für den Anbau von Cash Crops eingesetzt werden auf dem Land, das rechtmäßiger Weise ihnen gehört – sowohl nach brasilianischen als auch nach internationalem Recht.

Im Amazonasgebiet Perus, im Herzen dessen, was Survival International als das Unkontaktierte Amazonas-Grenzland definiert, beherbergen der Regenwald und die Berge dutzende Gruppen, die wenig oder keinen Kontakt zur Mainstream-Gesellschaft haben. Sie leben seit Generationen nachhaltig auf ihrem Land, meist als nomadische Jäger und Sammler. Sie wissen, wer „wir“ sind, haben sich aber entscheiden, keinen Kontakt aufzunehmen. Sie hinterlassen im Wald ihre Speere überkreuz oder richten ihre Pfeile auf vorbeifliegende Flugzeuge, um zu verdeutlichen, dass sie in Ruhe gelassen werden möchten. Ansteckende Krankheiten wie die Grippe oder die Masern, gegen die sie keine Abwehrkräfte haben, können für sie tödlich sein – genauso wie die Gewalt, mit der viele versuchen ihr Landes und ihrer Ressourcen zu stehlen.

Leider gibt es Pläne, genau das in industriellem Ausmaß zu tun. Die pro „Entwicklung“ eingestellte Regierung unter Pedro Pablo Kuczynski hat gerade einen „Masterplan“ für die Suche nach Öl im Sierra Divisor-Nationalpark gebilligt – einem entlegenen Teil der Grenzregion, die einer ausgeprägten und wertvollen Biodiversität sowie vielen unkontaktierten Völkern eine Heimat bietet. Der Plan gibt bestimmte, sogenannte „Schutzgebiete“ zum Abschuss durch die Ölindustrie frei und macht sie somit einem Prozess zugänglich, der häufig massive unterirdische Sprengstoffdetonationen mit sich bringt. Es ist offensichtlich, dass dies die Jagdgebiete unkontaktierter Völker stören, ihre Nahrungsquellen abschneiden und das Risiko tödlicher Konfrontationen zwischen ihren Angehörigen und dem Personal der Ölkonzerne massiv erhöhen wird.

Auf der anderen Seite des Amazonasgebiets, im Nordosten Brasiliens, klammern sich indigene Völker an den wenigen Wald, der noch übrig ist. Im Arariboia-Gebiet, der Heimat der Völker der Guajajara und der Awá, hat die großflächige Abholzung sehr wenig von der Umwelt übriggelassen, von der die Völker abhängig sind und die sie über Jahrtausende hinweg gepflegt haben. Lastwagen gefüllt mit illegal geschlagenem Holz passieren ungestraft die Feldwege, die durch das Gebiet führen. Indigene Gemeinden, einige von ihnen unkontaktiert, fliehen vor den Kettensägen und suchen Zuflucht in kleinen Flecken Wald, wo sie in Ruhe jagen und nach Nahrung suchen können.

Bemerkenswerterweise sind einige der kontaktierten Indigenen dazu übergangen, ihre unkontaktierten Nachbarn zu beschützen. Eine Gruppe des Volks der Guajajara, die als „Die Beschützer“ bekannt ist, hat es auf sich genommen, das Land zu schützen. Der Anführer der Gruppe, Olimpio, findet dafür einfache Worte: „Wir verteidigen unser Territorium, damit die unkontaktierten Awá überleben können. Wir wollen einfach, dass sie in Ruhe gelassen werden.“

Es gibt in der Region eine immense Feindseligkeit gegenüber Gruppen wie den Beschützern. Zwischen September und November 2016 wurden sechs Männer der Guajajara ermordet und anschließend grausam zerstückelt. Die örtlichen Behörden, die vom Handel mit illegalem Holz profitieren, drücken dieser Brutalität gegenüber ein Auge zu. Die Guajajara und die Awá haben wenige Verbündete. Survival arbeitet seit Jahren daran, sie zu unterstützen in ihrem Recht darauf, ihr Land zu schützen, ihr Leben zu verteidigen und ihre eigene Zukunft zu bestimmen.

Es gibt unzählige weitere Beispiele: Im Zentrum des Amazonasgebiets ist eine kleine Gruppe unkontaktierter Indigener, die als Kawahiva bekannt ist, seit Jahren auf der Flucht. Sie ist dazu gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben, um Invasoren und den Gefahren, die diese mit sich bringen, zu entgehen. Wäre ihr Land vor den Ranchern und Holzfällern, die ständig versuchen, es auszubeuten, geschützt, könnten sie wieder ein gutes Leben führen. Stattdessen soll das Budget des Amts der brasilianischen Regierung, das hierfür verantwortlich ist, gekürzt werden.

Auch in Paraguay leben kleine Gruppen der Ayoreo ein ähnlich gefährdetes Leben im Chaco, einem trockenen, struppigen Wald, der schneller als jeder andere auf der Welt abgeholzt wird. Bulldozer, welche die Ayoreo „Bestien mit Metallhaut“ nennen, reißen Bäume und Behausungen nieder und zwingen die Indigenen zur Flucht. Die Ayoreo, die kontaktiert wurden, erlitten Krankheiten und fanden sich verarmt an den Rändern der paraguayischen Gesellschaft wieder. Die Männer verdingen sich als Lohnarbeiter und viele der Frauen wenden sich der Prostitution zu, um zu überleben. Sie werden von Missionaren und skrupellosen Menschen bedrängt, die sie ausbeuten wollen. Kontakt mit der Mainstream-Gesellschaft und der Wegzug aus dem Wald waren für sie nicht „Fortschritt“, sondern ein Todesurteil.

Landraub ist das größte Problem, mit dem indigene Völker konfrontiert sind. Rund um die Welt stiehlt die industrialisierte Gesellschaft in ihrem Profitstreben indigenes Land. Das ist die Fortsetzung der Invasion und des Völkermordes, die die europäische Kolonisierung Amerikas und Australiens kennzeichneten.

Für indigene Völker bedeutet Land aber Leben. Es erfüllt alle ihre materiellen und seelischen Bedürfnisse. Land bietet Nahrung, Unterkunft und Kleidung. Es ist auch die Grundlage für die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl indigener Völker.

Der Diebstahl von indigenem Land zerstört autarke Völker und ihre vielfältigen Lebensweisen. Er verursacht Krankheit, Elend und Selbstmord. Die Belege dafür sind unbestreitbar. Es wird Zeit, dass wir indigene Völker anerkennen und für das fundamentale Recht auf Selbstbestimmung kämpfen, das indigene Völker auf dem Land, das rechtmäßig ihnen gehört, haben. Standing Rock hat gezeigt, welche Macht Menschen haben, die für ihr Leben, ihr Land und für ihre Menschenrechte eintreten. Bei Survival kämpfen wir für vergleichbare Siege auch anderswo auf der Welt.

Dieser Artikel erschien in ähnlicher Fassung in Counterpunch

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