Der Mythos über unsere Vorfahren: Warum heutige indigene Völker nicht mit unseren Vorfahren verglichen werden sollten

Eine Frau der Ayoreo bei einem Haus, das wegen Abholzung verlassen wurde. © V Regehr/ Survival

Oft werden zeitgenössische indigene Völker mit den Menschen von vor 60.000 Jahren und früher verglichen. Obwohl diese und ähnliche Ansichten weit verbreitet sind, sind sie leicht zu widerlegen. Sie wurde in Zeiten des Kolonialismus geprägt und werden noch heute dazu benutzt, indigenen Völkern ihr Land und ihre Ressourcen zu rauben. Von Stephen Corry

Unzählige Male hab ich ihn gesehen, gelesen, gehört: Den „Wie unsere Vorfahren“-Mythos. Überaus erfolgreich und beispielhaft verbreitet wurde er etwa durch die achtteilige BBC-Serie „Andrew Marr’s History of the World“, mit dem britischen Polit-Journalisten Andrew Marr. Ihr folgten ein Buch und internationale Ausstrahlungen. In Deutschland erschien die Serie unter dem Titel „Die Geschichte des Menschen“ und wurde vom bekannten Schweizer Fernsehmoderator Dieter Moor präsentiert.

In der Eröffnungsszene erklärt Marr feierlich „Seit Tausenden von Jahren lebt das Volk der Ayoreo in den Wäldern Südamerikas. Sie führen immer noch den weitestgehend gleichen Lebensstil in Form von Jägern und Sammlern wie die allerersten Menschen auf der Erde.“

Andrew Marr schrieb das Skript persönlich und scheint – wie ich meine irrtümlich – zu denken, dass das Einfügen des Wortes „Lebensstil“ seine Aussage abschwächt: Nämlich die, dass die Ayoreo sich so ziemlich auf dem Niveau des prähistorischen Menschen von vor Zehntausenden Jahren befinden. Dieses glücklose indigene Volk in Paraguay wurde vermutlich als ein Beispiel für Jäger und Sammler im Allgemeinen gewählt; Marr gewährt ihnen zumindest die Anerkennung, „gleichermaßen menschlich“ zu sein.

Schon diese einleitende Bemerkung ist absoluter Unsinn. Schlimmer noch, es repräsentiert die allgemeine Lehrmeinung, die immer noch die Zerstörung von indigenen Völkern und den Raub ihrer Territorien und Ausbeutung ihrer Ressourcen unterfüttert.

Die gleiche Idee wurde schon benutzt, um Europas weitestgehend erfolgreiche Eroberung der Welt sowie seinen Sklavenhandel zu rechtfertigen. Nach Ansicht dieser Ideologie waren die „weißen Rassen“ (der sowohl ich als auch Marr und Moor angehören) fortgeschritten und anderen Gesellschaften überlegen, die rückständig und primitiv geblieben waren. „Die Anderen“ bräuchten Europäer, um von ihnen in die „moderne Welt“ geführt zu werden, die „wir“ gemacht hatten und die uns gehörte. Die Geschichte stand auf unserer Seite, nicht auf ihrer. Das gab uns das Recht – ja, die Pflicht –, ihr Land, ihre Ressourcen und ihre Arbeitskraft auszubeuten, denn sie wussten schlicht nicht, wie sie es richtig nutzen sollten. Die Beweise lagen unbestreitbar vor unseren Augen in den Ruinen des klassischen Athen und Roms und wurden schließlich sogar vom Darwinismus „bewiesen“.

Dieser Glaube bleibt eine Erfindung, um unsere übermäßige und selbstsüchtige Ausbeutung von fremden Ressourcen zu erklären und zu rechtfertigen.

Unterschiedliche Ausprägungen dieses Glaubens verbreiteten sich in Europa seit dem 18.Jahrhundert. Egal wie stark dieser Glaube auch immer noch im kollektiven Bewusstsein verankert ist und mit welcher Farbe der Political Correctness er auch übergestrichen wird: Er bleibt eine Erfindung, um unsere übermäßige und selbstsüchtige Ausbeutung von fremden Ressourcen zu erklären und zu rechtfertigen.

Angewendet auf heutige indigene Völker klingt es ungefähr so: Weil die ersten Menschen gewöhnlich als „Jäger und Sammler“ charakterisiert werden, folgt daraus, dass die Völker des 21. Jahrhunderts, die auch als „Jäger und Sammler“ leben, im Großen und Ganzen auf die gleiche Weise leben. Die Serie beginnt mit diesem Irrtum und verschlimmert ihn zunehmend, indem behauptet wird, dass die Weltgeschichte, ja die Zeit selbst, irgendwie an den Ayoreo vorbeigegangen ist und dass sie erst im Jahr 1998 „dem 20. Jahrhundert Auge in Auge gegenüberstanden“ (in welchem Jahrhundert sollten sie denn sonst gelebt haben?).

Der Film macht deutlich, dass als „erster Mensch“ jener Homo sapiens gilt, der zuerst vor 60.000 Jahren Afrika erfolgreich verließ (1), um den Planeten zu besiedeln (obwohl, wie Marr anerkennt, unsere Art viel älter ist). Aber inwieweit ist die Lebensweise der modernen Jäger und Sammler im Allgemeinen und die der Ayoreo im Speziellen wirklich mit der Lebensweise unserer „Jenseits von Afrika“-Vorfahren vor Zehntausenden von Jahren vergleichbar? Eine Möglichkeit, um nach einer Antwort zu suchen, findet sich in dem Akt des Jagens.

Hunderte verschiedener Jagdtechniken und -technologien wurden von den indigenen Völkern dieser Welt entwickelt. Dazu gehören fachkundig gefertigte Waffen wie Speere, Pfeil und Bogen, Blasrohre und Bumerangs genauso wie einfachere Keulen und Äxte, Schlingen, Lassos, Netze und Bolas. Viele dieser Waffen sind wahrscheinlich das Ergebnis von Generationen der Weiterentwicklung und Optimierung.

Die Bandbreite der Bögen zum Beispiel reicht von kurzen und schwachen Waffen, die an weniger als einem Tag hergestellt werden, bis hin zu Langbögen, die sorgfältig im Laufe der Zeit bearbeitet werden, um beträchtliche Kraft und Genauigkeit zu verleihen. Wo das verfügbare Material auf kurze, unflexible Stöcke beschränkt ist und somit der Impuls des Bogens gering ist, wie im Falle der Kalahari, kompensierte der Mensch diesen Nachteil der kurzen Reichweite durch die Entwicklung von Pfeilgiften und perfektionierte ausgeklügelte Verfolgungs- und Pirschmethoden.

Indigene Jäger nutzen heute viele hochgradig abgestimmte Fertigkeiten, wie das Nachahmen von Tierrufen oder ein bestimmtes Verhalten, um die Neugier des Wilds zu wecken oder es zu einem anderen Jäger zu treiben. Um kleine Tiere zu erbeuten, sind Schlingen und andere Fallen eine gute Möglichkeit, obwohl diese großes Geschick bei der Konstruktion und Platzierung benötigen, sowie beträchtliche Geduld.

Dies sind nicht die einzigen Fähigkeiten, die von einem guten Jäger erwartet werden: Sich absolut still verhalten zu können und Athletik müssen mit fundiertem zoologischen Wissen und sorgfältigem strategischem Denken vereint werden. Eine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft verfolgt eine bestimmte Lebensweise und bewirkt eine besondere Sicht auf die Beziehung zwischen Mensch und Tierreich. Die Jagd ist eine Schlüsselkomponente ihrer Selbstidentifikation, ihres Glaubens und ihrer Rituale: Es gibt kaum etwas, dass für sie wichtiger wäre.

Wir wissen vielleicht nicht viel darüber, wie unsere Vorfahren gelebt haben, aber wir können ein paar Vermutungen darüber anstellen, basierend auf dem Wenigen, was wir gefunden haben.

Die Menschen, die Afrika verließen, müssen mit modernen Jägern sicherlich ihre Schlagfertigkeit und Fähigkeit zur Improvisation und Anpassung geteilt haben. Aber wir haben kaum eine Vorstellung davon, ob sie irgendeine ihrer Jagdmethoden oder -technologien angewendet haben oder nicht, oder ob sie ähnliche Überzeugungen verfolgt haben.

Wir wissen vielleicht nicht viel darüber, wie unsere Vorfahren gelebt haben, aber wir können ein paar Vermutungen darüber anstellen, basierend auf dem Wenigen, was wir gefunden haben. Wir können zum Beispiel ziemlich sicher sein, dass sie nicht in Städten wohnten und sich nicht auf kultivierte Grundnahrungsmittel stützten, wie jene, die heute den größten Teil der Welt ernähren – Mais, Reis, Weizen, Kartoffeln, Maniok, Süßkartoffeln und Taro. Es gibt keine Hinweise für nur eine dieser Nutzpflanzen – erst Tausende Jahren später werden diese angebaut.

Wir können weiterhin davon ausgehen, dass die frühen Kolonisten, die außerhalb von Afrika lebten, für den größten Teil ihrer Ernährung von Pflanzen und kleineren Lebewesen abhängig waren. Es ist auch möglich, dass sie sich von bereits toten Tieren ernährt haben, einschließlich derer, die von anderen Raubtieren, wie Löwen, getötet wurden. Und sie haben sich wahrscheinlich an den reichlich vorhandenen und leicht zugänglichen Nahrungsmitteln entlang der vielen Küstenlinien bedient, darunter Muscheln , Krebse, Seeigel, Fische die in den Gezeitenbecken zurückgeblieben waren und so weiter.

Nahrung, die sich leicht finden ließ, beinhaltete zweifelsohne auch kleine Tiere, die sie aus Höhlen ausgruben und andere, die aus dem Hinterhalt überfallen wurden oder leicht zu jagen waren. Wir wissen jedoch nicht, inwieweit (wenn überhaupt) diese Menschen auf die Jagd angewiesen waren, wie es heute für Jäger und Sammler verstanden wird: Wir wissen nicht, ob sie großen Beutetieren nachgingen, und falls ja, ob sie komplexe Jagdtechnologien oder Verfahren benutzten, um die Beute zu sichern.

Trotz einer dreisten Behauptung, die später in der BBC-Serie gemacht wird, gibt es keinen Beweis dafür, dass das Verbleiben an einem Ort im Allgemeinen bedeutete, dass die Menschen verhungert wären. Bei sehr niedrigen Bevölkerungsdichten dürfte dies kaum ein verbreitetes Problem gewesen sein.

Darüber hinaus haben wir nicht die leiseste Ahnung davon, woran sie glaubten. Verständlicherweise sind Wissenschaftler sehr daran interessiert, Beweise dafür zu finden, aber was für Beweise könnten das schon sein? Die überzeugendsten Funde, die Hinweise geben könnten, sind Felszeichnungen in Form von Gemälden und Schnitzereien, sowie Figuren aus Elfenbein oder anderem Material. Doch trotz Generationen von Vermutungen und Theorien, was diese bedeuten könnten, ist die ehrliche Antwort, dass wir es einfach nicht wissen.

Dennoch werden die Ayoreo mit Menschen von vor Zehntausenden von Jahren verglichen, die sogar noch vor diesen Kunstzeichnungen gelebt haben. Hatten prähistorische Menschen damals ihren eigenen Glauben für das, was hinter der alltäglichen Erfahrung liegen könnte? Es scheint wahrscheinlich, aber die Wahrheit ist, dass wir nur Vermutungen anstellen können. Heutzutage glaubt wahrscheinlich jeder Erwachsene auf der Erde an etwas, aber soweit wir wissen, macht das kein einziger Affe. Solche Vorstellungen – unabhängig davon, ob sie als religiös oder wissenschaftlich eingestuft werden – bilden einen wichtigen Bestandteil der „Lebensweise“, einige würden sie als den wichtigsten bezeichnet. Wir können unsere Vorfahren in dieser Hinsicht einfach nicht mit den Ayoreo vergleichen.

Kehren wir also zur Jagdtechnik zurück. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Menschen vor etwa 44.000 Jahren im äußersten Süden Afrikas bereits einige Waffen und Werkzeuge benutzten, die den heutigen Jägern der Buschleute (die wahrscheinlich ihre Nachkommen sind) vertraut sind. Doch diese beiden Völker, die modernen Buschleute und ihre Vorfahren, teilen ein wahrscheinlich einzigartiges Merkmal: Sie stammen von ein und demselben Ort. Sie sind nicht so gereist, wie die Vorfahren anderer indigener Völker dies fast ohne Zweifel getan haben. (Obwohl selbst das falsch sein könnte: Vielleicht sind sie gereist aber schließlich dahin zurückgekehrt, woher sie kamen.) Ist es möglich, dass sie, nachdem sie Dinge erfunden hatten, die in ihrer Umgebung gut funktionierten, keine Notwendigkeit sahen, diese zu verändern? Bedeutet das, dass sie sich nicht auf andere Weise verändert haben könnten?

Natürlich bedeutet es nichts dergleichen. Nehmen wir ein Beispiel: Die ältesten gefundenen Speere stammen aus Deutschland und sind schätzungsweise unglaubliche 400.000 Jahre alt. Wir wissen nicht, ob sie für das Werfen über eine größere Distanz verwendet wurden oder als Stichwaffe, aber sie wurden geschickt hergestellt und gewichtet, sodass man sie als Wurfwaffe hätte nutzen können. Sie sind so gut, dass eine Nachbildung von professionellen Speerwerfern über siebzig Meter geschleudert werden konnte – und damit nur knapp 10 Meter hinter der Weite des Olympiasiegers im Speerwerfen 2016, Thomas Röhler. Wie dem auch sei, es kann angezweifelt werden, dass Herr Röhlers Lebensweise der eines 400.000-jährigen Homo heidelbergensis ähnelt, auch wenn sein Speer nur ein bisschen besser ist, als das älteste gefundene Modell.

Unsere Vorfahren haben sicherlich Fleisch gegessen, das ist unumstritten. Unsere ausgestorbenen Verwandten, die Neandertaler, aßen schon viele Jahrtausende vor den Homo sapiens, die Afrika verließen, Mammuts und andere große Lebewesen wie Pferde, Rentiere und Bisons. In diesem Sinne hätte vielleicht die Ernährung des Neandertalers mehr Überschneidungsmenge mit der Ernährung moderner Jäger und Sammler als die unserer Vorfahren. Wir wissen, dass einige Neandertaler nach der größtmöglichen Beute suchten, die sie finden konnten; wohingegen unsere eigenen Homo sapiens-Vorfahren mit weitgehend kleinerer Beute auskamen.

Die Neandertaler lebten jedoch in kalten nördlichen Klimazonen, wo sie reichlich Fleisch brauchten, um am Leben zu bleiben. Sie haben sicherlich gejagt, aber wir wissen nicht, inwieweit das bedeutet, Wild in bekannten Jagdgründen oder an Wasserlöchern zu jagen oder es mit Grubenfallen zu fangen. Wir wissen nicht wie viel bereits getötetes oder verstorbenes Tier konsumiert wurde, statt selbst aktiv auf die Jagd zu gehen. Die Wahrheit ist wahrscheinlich, dass dies zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich war.

In der Tat können wir noch viel weiter zurückblicken um Belege für Fleischverzehr zu finden. Es gibt zum Beispiel Hinweise aus Afrika, dass Homo habilis – (mögliche) affenähnliche Vorfahren unserer Spezies – schon vor zwei Millionen Jahren Antilopen aßen, die sie vielleicht sogar selbst getötet hatten. Dies ist eine halbe Million Jahre früher, als der erste (mögliche, aber sehr umstrittene) Hinweis auf passende Kochstellen. Wir wissen auch, dass Schimpansen und Bonobos – unsere einzigen verbliebenen nahen Verwandten, jetzt, da andere menschliche Arten ausgestorben sind – gelegentlich andere Affenarten und Tiere, jagen, töten und essen. Wie gesagt: Sie haben alle Fleisch gegessen, aber wie sind sie daran gekommen?

Dreißigtausend Jahre alte Mammutknochen, die in Tschechien gefunden wurden, deuten eher auf den Konsum von Aas hin, das im Gegensatz zur eigenständigen Jagd bereits von anderen Raubtieren getötet wurden.

Es gibt zahlreiche Überreste von Äxten, Messern und, wie wir gesehen haben, von Speeren, die auf eine Zeit zurück datiert wurden, lange bevor unsere eigene Spezies die Bühne betrat. Es gibt eine Tendenz anzunehmen, dass die Existenz solcher alten Waffen per se zeigt, dass die Jagd – im Sinne von Verfolgung großer Beutetiere – schon immer vollzogen wurde. Aber tatsächlich beweist es nichts dergleichen.

Behauptungen, dass heutige Jäger und Sammler mehr über unsere Vergangenheit erzählen können, als alle anderen, sind ein Zirkelschluss.Sie beruhen fast ausschließlich auf Vermutungen, die wiederum auf wenig mehr als Vorurteilen basieren.

Wir können ziemlich sicher sein, dass der Hauptantrieb für technologische Entwicklungen in der jüngeren Geschichte Kriege und Kriegsführung waren, so dass es gut möglich ist, dass Konflikte auch ein Faktor bei der Entwicklung prähistorischer Werkzeuge waren. Messer und Äxte könnten in der Verteidigung gegen Menschen oder Tiere genauso gut verwendet worden sein, wie im Angriff. Solche Waffen eigneten sich auch zum Ausschlachten von bereits toten Tieren – im Gegensatz zu selbst gejagter Beute. Mit anderen Worten, die Hauptverwendung für frühe Speere hätte eher in der Verteidigung als in der Jagd liegen können. Es lohnt sich ins Gedächtnis zu rufen, dass die Massai, eines der heute für seine Speere berühmtesten Völker der Erde, weder wilde Tiere jagt noch isst. Beweisen tut das natürlich gar nichts.

Die Wahrheit ist, dass wir sehr wenig darüber wissen, wie der frühe Homo sapiens seine Nahrung aufgetrieben hat. Das Ausmaß, in dem er „fast das Gleiche“ jagte, wie moderne Jäger und Sammler, oder er es größtenteils aus Aas beschaffte, beruht fast ausschließlich auf Vermutungen, die wiederum auf wenig mehr als Vorurteilen basieren.

Behauptungen, dass heutige Jäger und Sammler mehr über unsere Vergangenheit erzählen können, als alle anderen, sind ein Zirkelschluss: Es ist reine Annahme, dass Jäger und Sammler heute so leben, wie einst unsere Vorfahren und umgekehrt, dass unsere Vorfahren so gelebt haben, wie wir uns – oft fälschlich – vorstellen, dass es moderne Jäger und Sammler tun.

Wie bereits erwähnt, wir wissen nicht, wie sehr unsere Vorfahren nach bereits erlegten Beutetieren Ausschau gehalten haben, statt selbst aktiv auf die Jagd zu gehen; ebenso wissen wir nicht, inwieweit sie an Küstenzonen blieben oder Fluss- oder Binnenland bevorzugten. Es gibt Hinweise darauf, dass Fische in ihrer Ernährung eine Rolle spielten, aber wir wissen nicht, wie stark sie sich auf die Fangtechnologien verlassen haben, die heute von modernen Jägern und Sammlern praktiziert werden: Netze; Fallen; Harpunen; Pfeil und Bogen; Speere und Harpunen; Reusen; der hochentwickelte Gebrauch von Giften; und natürlich Haken und Leinen. Sie hätten diese Dinge benutzen können, von denen wahrscheinlich kaum Spuren in archäologischen Funde geblieben wären. Ebenso gut kann es sein, dass sie lange Zeit keine dieser Technologien verwendet haben, sondern stattdessen auf gestrandete Wale und Delfine hofften, Muscheln gesammelt und Gezeitenbecken als Nahrungsquelle nutzen.

In der Tat muss die schiere Menge an leicht verfügbarer Nahrung zumindest in einigen Umgebungen und zu bestimmten Zeitperioden raffinierte Jagdtechniken ziemlich überflüssig gemacht haben. Vor der Industrialisierung hat es vor Wildtieren auf diesem eisfreiem Planeten wahrscheinlich nur so gewimmelt.

Wenn wir also nicht viel über prähistorische Jagdpraktiken oder Glaubensvorstellungen herausfinden können, was wissen wir über die Wanderbewegungen der Völker? Die Wissenschaft hat einen ziemlich guten, wenn auch groben Überblick über ihre Wanderungen, nachdem sie Afrika verlassen hatten, sowie ein grobes Verständnis dafür, wie es dazu kam, dass einige ihrer Nachkommen sich zu Ayoreo entwickelten, während andere zu Andrew Marr, Dieter Moor und mir führten.

Die Vorfahren der Ayoreo hätten [nach dem was wir über die Wanderbewegungen der Menschenheit annehmen] zu einem bestimmten Zeitpunkt so ziemlich jedes mögliche Fleckchen der Erde besetzt haben müssen, karge Wüsten und üppige Tropen, dampfende Niederungen und hohe, kalte Plateaus und Berge. Überall hätten sie sich anpassen müssen.

Die meisten Experten glauben, dass es fast 45.000 Jahre dauerte, bevor irgendjemand schließlich die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska überquerte. (Marr skizziert diese Reise in seinem Film, was seine Gleichsetzung der Ayoreo mit unseren Vorfahren noch problematischer macht.) Um diesen östlichsten Punkt Asiens zu erreichen, hätten die Vorfahren der Ayoreo zu einem bestimmten Zeitpunkt so ziemlich jedes mögliche Fleckchen der Erde besetzt haben müssen, karge Wüsten und üppige Tropen, dampfende Niederungen und hohe, kalte Plateaus und Berge. Überall hätten sie sich anpassen müssen, hätten neue Wege zur Sicherung von Nahrung entwickeln und neue Unterkünfte schaffen müssen: Das Wissen und die Technologien, die ein Volk an einer tropischen Küste von Vorteil sind, sind in mongolischen Steppen oder sibirischen Wäldern von geringem Nutzen.

Jede dieser verschiedenen Lebensweisen würde offensichtlich Zeit und Einfallsreichtum brauchen, um zu etwas heranzuwachsen. Es ist unwahrscheinlich, um es gelinde auszudrücken, dass sie alle schon vor 60.000 Jahren Teil des Wissens der Menschen in Afrika waren. Man stelle sich heute ein Volk tropischer Waldjäger in die Mitte Sibiriens vor – ohne Rat von lokalen Experten würden sie wahrscheinlich nicht lange überleben.

Die 45.000 Jahre zwischen dem Verlassen Afrikas und der Ankunft in Alaska vergingen für alle im gleichen Tempo. Viele Völker sind wohl ausgestorben oder getötet worden, einige haben sich wahrscheinlich mit anderen gekreuzt, und zweifellos haben einige von ihnen neue Dinge gelernt – vielleicht über die Jagd. Aber warum sollte jemand, der überlebte, in seiner Entwicklung „zurückgelassen“ werden?

In Wirklichkeit erfanden und entwickelten afrikanische, asiatische, australische, amerikanische und pazifische Völker Technologien, Artefakte, Nahrungsmittel und Medikamente. Auch fanden sie Wege, ihre Umwelt und ihre Beziehungen untereinander in Einklang zu bringen. Die meisten Europäer waren erstaunt davon, als sie in der Kolonialzeit auf sie trafen. Zumindest so sehr wie die „Eingeborenen“ selbst von den Europäern fasziniert waren. Das frühe Zitat von Kolumbus über die karibischen Indigenen, „Es gibt kein besseres Volk … in der Welt“ wird normalerweise durch den folgenden Völkermord überdeckt.

Es wird auch weitgehend verkannt, dass einige Aspekte des Lebens dieser Völker – insbesondere Lebensmittel und Medikamente – von den Kolonisten begeistert angenommen wurden und bis heute in unserem Leben eine große Rolle spielen. Zum Beispiel stammt der größte Teil der Nahrungsaufnahme der Welt aus nur fünf Grundnahrungsmitteln, von denen drei von amerikanischen Indigenen entwickelt wurden: Mais, Kartoffeln und Maniok. Außerhalb Amerikas waren sie bis ins 16. Jahrhundert unbekannt, aber sie waren in der Lage, sich in vielen verschiedenen Umgebungen auf der ganzen Welt gut zu entwickeln. Sie haben dabei unzählige Millionen von Leben genährt.

Lange vor diesen Erfindungen, noch bevor die Ahnen der Ayoreo überhaupt Amerika betraten, hatten sie schon unzählige Lebensweisen in Hunderten von verschiedenen Umgebungen gelebt, über Tausende von Meilen hinter sich gebracht und das in Zehntausenden von Jahren. Dieses Muster nahm an Komplexität zu, nachdem sie die Beringstraße überquert hatten und in Richtung Süden wanderten.

Zu dieser Zeit war Alaska möglicherweise relativ eisfrei, obwohl ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre sich noch im letzten Teil der Eiszeit befand und der größte Teil Kanadas sowie Großbritannien und Nordeuropa mit Eis bedeckt war. Jagdtechniken müssen besonders ausgeklügelt sein, wenn sie menschliches Leben in solch einer Umgebung ermöglichen sollen, in der Pflanzen rar sind. Die Inuit, die einige 1000 Jahre nach den ersten Einwanderern in Alaska ankamen, entwickelten ihre eigenen Technologien, um sich darauf einzustellen: Mit ihren Hundeschlitten, der speziellen Harpune, dem tierhautbedeckten Kajak und dem berühmten Iglu. Es hat herausragend funktioniert und dieser Teil der Welt bleibt für sie ihr Zuhause, obwohl er von allen anderen immer noch als feindselig angesehen wird.

Es scheint sicher, dass die Vorfahren der Ayoreo, zusammen mit denen der meisten amerikanischen Indigenen, Tausende von Jahren vor den Inuit durch Alaska kamen. Als sie durch Kanada und die Vereinigten Staaten in immer wärmer werdende Gebiete zogen, entwickelten sie immer neue Wege, um ihr Leben in Wäldern, Ebenen, Mooren und Sümpfen, Bergen und Wüsten zu erleichtern. Einige Völker wurden überwiegend Bauern, andere bauten ein bisschen Getreide an und ergänzten ihre Nahrung mit Fleisch der Jagd, andere waren überwiegend Jäger oder überwiegend Fischer. Einige von ihnen bildeten beträchtliche, permanente Siedlungen, andere lebten in saisonalen Lagern, wieder andere lehnten Siedlungen ab und lebten in provisorischen Unterkünften in nomadischen Kleingruppen, die alle paar Tage weiterzogen.

Beide – die Nonnen des Tyburn Convents in London und die wachsenden Amish-Gemeinden in den östlichen USA – lehnen jüngste Erfindungen ab, obwohl sie in den Hightech-Regionen der Welt leben. Diese enorme Kraft der Präferenz und der Wahl stellt, für sich gesehen, sicherlich die eurozentristische Theorie einer „Revolution“ in Frage.

Einige Jäger wurden Bauern, wie es in Mesopotamien und anderswo der Fall war, andere sind vielleicht umgekehrt vorgegangen. Mit Sicherheit taten sie es zumindest später, als ehemals sesshafte Bauern sich zu mobilen, reitenden Jägern entwickelten, als sie von einem Teil Nordamerikas in einen anderen zogen. „Fortschritt“ bedeutete für solche Menschen weniger Landwirtschaft, nicht mehr. In einigen Gegenden koexistierten gänzlich unterschiedliche Lebensweisen friedlich, in anderen gab es zweifellos Konflikte. Trotz allem, was einige übermäßig deterministische Schriftsteller glauben, ist die Tatsache, ob ein Volk mobil war oder ist, und die Art von Technologie, die verwendet wird, wird nicht nur von der Umwelt, dem Klima und den Bedürfnissen diktiert: Ein anderer wichtiger Faktor ist wohl schlicht und einfach Präferenz und die Freiheit zu wählen.

Diese Tatsache lässt sich leicht veranschaulichen, weil sie in vielen Teilen der Welt, auch in unserer eigenen, Bestand hat. Vergleicht man manische Shopper in der Oxford-Street in London mit den isolierten Nonnen des Tyburn Convents, die weniger als fünf Gehminuten entfernt wohnen, oder den wachsenden Amish-Gemeinden in den östlichen USA: Beide lehnen jüngste Erfindungen ab, obwohl sie in den Hightech-Regionen der Welt leben. Diese enorme Kraft der Präferenz und der Wahl stellt, für sich gesehen, sicherlich die eurozentristische Theorie einer „Revolution“ in Frage, die sich auf die Entwicklung der mesopotamischen Landwirtschaft konzentrierte (die der BBC-Film besonders komisch ausdehnt: Er zeigt eine einzelne Frau, die über das wundersames Wachstum einer einzelnen Pflanze sehr erstaunt ist – es ist Monty Python in Reinform).

Heutzutage leben nomadische Hirten neben sesshaften Bauern, und nomadische Jäger teilen ihre Wälder und Ebenen mit denen, die feste Unterkünfte bevorzugen. Sie alle wissen, wie man Häuser baut, und könnten ganz einfach in sesshaften Gemeinden leben, wenn sie wollten. Die Tatsache, dass ihre Zahl schrumpft, hat sehr wenig mit „Fortschritt“ oder „Entwicklung“ zu tun, sondern ist fast ausschließlich darauf zurückzuführen, dass sie von ihrem Land vertrieben werden, zumeist gewaltsam.

Aber kehren wir zu der Geschichte der Vorfahren der Ayoreo zurück. Innerhalb weniger tausend Jahre wurde ganz Amerika kolonialisiert. Die Küstenwüsten im Süden des Kontinents, Berge, Ebenen, gefrorenen Steppen und natürlich der größte tropische Regenwald der Welt, der Amazonas, waren alle etwa zur selben Zeit schon von Menschen bewohnt, als unsere Spezies erstmals den aus Nordeuropa zurückgehenden Gletschern folgte.

Die Ayoreo und ihre Vorfahren waren weit davon entfernt, von der Geschichte umschifft zu werden.

In Südamerika könnten es leicht die direkten Vorfahren der Ayoreo gewesen sein, die zuerst das heiße Buschland besiedelten, wo das indigene Volk noch immer lebt. Von der gesamten Menschheit sind es nur die weiter südlich lebenden indigenen Völker – heutzutage überwiegend von den Europäern ausgerottet – die ferner von ihrem afrikanischen Startpunkt entfernt sind und sich auf ihrem Weg an noch mehr Umgebungen angepasst haben. Aber selbst wenn die Ayoreo die ersten in ihren Dornenwäldern waren (wo die Umwelt jetzt möglicherweise eine andere ist als früher), heißt das nicht, dass sie nie wieder umgesiedelt sind. Einige ihrer Guarani-Nachbarn waren dafür bekannt, viele hunderte Kilometer zurückzulegen. Sie suchten nicht nach einer besseren Umgebung im wirtschaftlichen Sinne, sondern nach Antworten für ihren Glauben und ihre Religion. Von anderen indigenen Völkern ist auch bekannt, dass sie in den letzten Jahrhunderten extrem lange Reisen unternommen haben und den Kontinent kreuz und quer durchwanderten.

Die Ayoreo und ihre Vorfahren waren weit davon entfernt, von der Geschichte umschifft zu werden. Sie müssen in der Zwischenzeit Hunderte verschiedener Lebensweisen durchlebt haben, bevor sie in ihrer Heimat Chaco ankamen. Wie die Vorfahren aller amerikanischen Indigenen, haben sie wahrscheinlich einmal in Arabien gefischt, in Sibirien Füchse gefangen, in den Rockies Lachs gefangen, in Kalifornien nach gestrandeten Walen Ausschau gehalten, in Mexiko Mais gezüchtet, an karibischen Stränden Krabben gesammelt und alles dies noch bevor sie überhaupt Südamerika entdeckt hatten.

Es ist ebenfalls wahr, dass es heute noch unkontaktierte Ayoreo gibt. Sie haben jedweden friedlichen Kontakt mit Nicht-Indigenen seit mindestens ein paar Generationen vermieden, wahrscheinlich noch länger – möglicherweise seit dem Auftauchen der Europäer vor fünf Jahrhunderten. Wir wissen viel über die Ayoreo, weil der größte Teil des Volkes missioniert wurde und uns deswegen genau sagen kann, wie sie lebten. Im Gegensatz zu einigen südamerikanischen Indigenen nutzen sie keine Kanus. Sie bauen kleine Gemeindehäuser, die bis zu einem Jahr halten; jedes beherbergt eine handvoll Familien, aber sie halten sich nicht wirklich viel in ihnen auf. Sie bevorzugen im Freien zu kochen und auch zu schlafen.

Sie pflegen mehrere Gemüsebeete, in denen verschiedene Arten von Kürbissen, Bohnen, Mais, Melonen, Tabak usw. angebaut werden. Das trockene Klima bedeutet, dass mehrere Parzellen keine Ernte einbringen. Daher tendieren sie dazu, an verschiedenen Orten Beete anzulegen, um jedmögliche Niederschläge für sich nutzen zu können. Sie klassifizieren unterschiedliche Zonen in ihrem Territorium durch sorgfältige Beobachtung des Bodens, der Vegetation und der Tiere und variieren ihre Verwendung, um Übernutzung zu verhindern. Sie preisen insbesondere den reichlich vorhandenen wilden Honig.

Wie fast alle südamerikanischen Indigenen würden sie keine toten Tiere essen, die nicht selbst erlegt haben. Ihre Jagdziele sind vielfältig: Wildschweine, Ameisenbären, Hirsche und Gürteltiere werden mit Speeren gejagt, Schildkröten werden gefangen oder aus ihren Höhlen gegraben. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie zufällig umherwandern, um zu sehen, welche Tiere ihnen über den Weg laufen könnten: Sie kennen zum Beispiel genau die Streifgebiete bestimmter Herden von Pekari, und wenn sie bevorzugt Schweinefleisch haben möchten, gehen sie genau dorthin, um sie aufzuspüren und zu töten. In gewisser Weise „verwalten“ sie die Schweine auf eine Art und Weise, was nichts anderes ist als, als was ein Hirte tut, indem er die Herde im Auge behält und bei Bedarf verwertet.

Die Ayoreo sind in verschiedene Gruppen eingeteilt. Genaue Regeln bestimmen die Wahl der Ehepartner, es gibt sogar Einschränkungen hinsichtlich Ernährung, wobei einige Lebensmittel für bestimmte Gruppen dauerhaft tabu sind. Manche essen Fische und Aale, die leicht zu fangen sind, wenn Wasserlöcher in der Trockenzeit schrumpfen, andere berühren sie nie. Ihr Glaube führt sie zu saisonalen, aber ausschweifenden Festgelagen und gemeinschaftlichen Ritualen, die sie, wie bei den Gruppen-Unterscheidungen, selbst als einen der wichtigsten Aspekte ihres Lebens betrachten. Die Regenzeit, die zuerst durch den schnellen Ruf einer Nachtschwalbe angekündigt wird, wird mit besonderer Vorfreude erwartet, da sie einen langen Zyklus von Festlichkeiten und gemeinsamer Zeit miteinander in Gang setzt.

Die Frage ist also: Wie viel von der Lebensweise der Ayoreo teilen diese Indigenen mit den Menschen vor 60.000 Jahren? Die Antwort ist: Wir haben absolut keine Ahnung.

Wie alle Gesellschaften haben auch die Ayoreo eine komplexe Lebensweise, und (wie bei allen Sozialwissenschaften und in der Geschichte) kann der Versuch, sie in ein paar Absätzen (oder Büchern!) zu skizzieren, niemals mehr als nur eine Vereinfachung sein. Die relevante Frage ist: Zu welcher Meinung gelangt der Betrachter oder Leser, worauf wird er hingewiesen, was wird weggelassen und was ist einfach falsch?

Die Frage ist also: Wie viel von der Lebensweise der Ayoreo teilen diese Indigenen mit den Menschen vor 60.000 Jahren? Ich akzeptiere, dass dies nicht hilfreich für Autoren und Rundfunkanstalten ist, die uns mit ihren leicht zugänglichen, aber nicht haltbaren Erzählungen glauben machen wollen, was auch Andrew Marr und Dieter Moor uns über die Lebensweise der Ayoreo glauben machen möchten; aber die Antwort ist: Wir haben absolut keine Ahnung – abgesehen vom Offensichtlichen: dass sie Fleisch und Gemüse aßen, welches sie selbstständig suchten, dass sie stritten; dass sie Kinder hatten, um die sie sich kümmerten; und so weiter.

Der Chaco, wie die Arktis der Inuit im hohen Norden, wird von Außenstehenden schon seit Langem als unbehaglich und feindselig, ja, „unbewohnbar“ angesehen. Dennoch ist er das Zuhause der Ayoreo. Wenn sie anderswo leben wollten, hätten sie es jederzeit tun können. Sie leben gut und genießen das Leben wie jede und jeder andere. Zumindest taten sie es, bis andere anfingen sie ihres Territoriums zu berauben, und das ist das Problem.

Außenstehende wollten schon lange alle Chaco-Indigenen in Siedlungen zwingen. Die Jesuiten und der Staat waren einst die Hauptschuldigen; ihnen folgte die evangelische und extremistische New Tribes Mission aus den Vereinigten Staaten. Bis vor einigen Jahren ermunterten sie das Volk, ihre unkontaktierten Verwandten „anzulocken“ und „mitzubringen“. (2) Einige wurden bei diesen Expeditionen getötet, und viele weitere starben, als sie in eine Abhängigkeit von Missionaren und in der Nähe lebenden Viehzüchtern gerieten.

Das Land der Ayoreo gewinnt für Außenstehende zunehmend an Wert, da eine gute Infrastruktur immer mehr Viehwirtschaft möglich macht. Einer der Hauptinvasoren ist jetzt ein Unternehmen, das sich größtenteils im Besitz des internationalen Bauunternehmens Grupo San Jose mit Sitz in Madrid befindet.

Diejenigen Ayoreo, die immer noch erfolgreich dem Kontakt entkommen können, fliehen seit Jahrzehnten vor den Bulldozern. Der BBC-Film zeigt ein Treffen zwischen einer Familie von zuvor unkontaktierten Ayoreo und einem paraguayischen Siedler 1998 – angeblich sei dies „eine zufällige Begegnung“ gewesen. Tatsächlich war es nichts dergleichen: Die Ayoreo waren jahrelang gejagt worden und hatten letztendlich einfach aufgegeben.

Die BBC-Serie behauptet, dass die Ayoreo und das „zwanzigste Jahrhundert“ (womit wirklich die „industrialisierte Gesellschaft“ gemeint ist) zwei Welten besetzen. Auch in der deutschen Übersetzung wird behauptet, dass beide Parteien „Jahrtausende Jahre menschlicher Entwicklung“ trennten. Das ist nicht der Fall: Eindringlinge sind seit Jahren ein Fluch für die Ayoreo. In ihrem Bemühen, ihnen auszuweichen, haben die unkontaktierten Ayoreo ihre eigenen Geschichten und Erklärungen zu diesen Eindringlingen und Dieben und ihren planierenden Tötungsmaschinen entwickelt. Diese Ayoreo sind immer noch unkontaktiert, weil sie sich immer noch verstecken, sich immer noch der Gefangennahme entziehen und vor den lebensbedrohlichen Risiken, die sie mit sich bringen, flüchten.

Dies geht schon so lange so, dass es unmöglich ist zu wissen, wie viel von ihrer Lebensweise heute von dieser Fluchtstrategie bestimmt wird oder eine Antwort darauf ist. Sind ihre kleinen Häuser ein Versuch, unauffällig zu bleiben? Besitzen sie nur das, was sie tragen können, damit sie schneller weglaufen können?

Das wirkliche Problem mit dieser Betrachtung der Ayoreo – abgesehen davon, dass sie sachlich falsch ist – ist natürlich, dass sie das Vorurteil verstärkt, dass die Ayoreo „rückständig“ seien. Was sonst könnte noch „leben wie unsere Vorfahren“ bedeuten? 

Wir wissen heute, dass einige nomadische Amazonas-Völker, die einst als reine Jäger und Sammler galten, tatsächlich über den Wald verstreute Gartenparzellen bewirtschaften und Ursprungsmythen für ihre wichtigsten Kulturpflanzen haben, genau wie ihre sesshafteren indigenen Nachbarn. Vielleicht haben sie dies einmal umfangreicher betrieben, wer weiß das schon?

Sie mögen nicht immer eine freie Wahl gehabt haben. Ihre Lebensweise könnte (!) in den letzten Jahrhunderten als Reaktion auf feindliches Eindringen in ihr Hoheitsgebiet mobiler geworden sein.

Das wirkliche Problem mit der Betrachtung der Ayoreo durch die BBC-Serie – abgesehen davon, dass sie sachlich falsch ist – ist natürlich, dass sie das Vorurteil verstärkt, dass die Ayoreo „rückständig“ seien. Was sonst könnte noch „leben wie unsere Vorfahren“ bedeuten?

In der deutschen Version erklärt Dieter Moor etwa: „Doch parallel zu unserer modernen Welt gibt es irgendwo im Dschungel immer noch ferne Verwandte unserer Vorfahren. Ureinwohner, die in bizarrer Gleichzeitigkeit mit uns leben; mit Speeren statt mit Handys. Vielleicht ist das ja das Faszinierendste an unserer Geschichte: Dass sie für manche Menschen noch nicht mal begonnen hat.“

Die Serie wiederholt völlig unreflektiert eine Überzeugung, die den kolonialen Diebstahl von indigenen Gebieten auf der ganzen Welt untermauert. Dieser Diebstahl wird noch immer von Unternehmen in die Welt posaunt, die genau das zu Ende bringen wollen – unter dem Vorwand, den Einheimischen zu helfen. Aber sie tun genau das Gegenteil: Sie stehlen die Ressourcen und verringern die Möglichkeit zur Selbstversorgung, was zu elendiger Armut führt.

Sowohl die Ayoreo als auch unsere 60.000 Jahre alten Vorfahren sammeln oder sammelten Nahrung in der Natur (wie heute eine beträchtliche Anzahl von Italienern in der Pilzsaison!). Und die Ayoreo jagen und kultivieren eine Vielzahl von Feldfrüchten. Aber haben unsere gemeinsamen Vorfahren wirklich auf „die gleiche Weise“ gejagt (oder geerntet)? Sogar wenn frühe Gesellschaften vorwiegend Jagd auf Beutetiere gemacht hätten, statt sich von bereits erlegtem oder gestorbenen Tieren zu ernähren, rechtfertigt es immer noch nicht den Vergleich (und es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch in Europa oder den USA viele Menschen noch für den Speiseplan jagen).

Es lohnt kaum auf die anderen – ebenso kolonialistischen – Ansichten der Serie einzugehen, die zu „unserer“ Entwicklung als die Anführer in der prähistorischen Welt vermittelt werden: Dazu gehört auch die Beschreibung der mesopotamischen Entwicklung von Weizen als „das, was die Erde mehr als alles andere verändert hat.“ (Was ist mit der Fähigkeit, Feuer zu machen, oder die Erfindung von Schießpulver?) Falls wir diesen Punkt verpasst haben, wird er auch nochmals als der „entscheidende Moment“ betont, „ein Durchbruch, dem alles folgt“.

In Wirklichkeit wird diese sogenannte „Entdeckung der Landwirtschaft“, die vor ungefähr 13.000 Jahren sattgefunden haben soll, zunehmend von Gelehrten in Frage gestellt, und zwar nicht nur, weil Menschen auf anderen Kontinenten jahrtausendelang auch selbständig Gemüse angebaut, ihre Umgebungen verändert, Tiere domestiziert und Pflanzen von ihrem ursprünglichen zu einem anderen Ort gebracht haben.

Jüngste Funde stellen sogar die „geheiligte“ mesopotamische „Entdeckung“ in Frage, Gras in menschliche Nahrung umzuwandeln, wie zum Beispiel Gerste oder Weizen. Schleifsteine, die anscheinend verwendet wurden um Mehl aus anderen Gräsern zu machen, wurden in Italien und Russland gefunden. Sie werden auf einen viel früheren Zeitpunkt datiert – vor nicht weniger als 30.000 Jahren. Unsere Vorstellungen von der mesopotamischen Innovation könnten massiv überbewertet sein (3).

Der Film enthält auch subtilere Botschaften, die darauf schließen lassen, dass die industrialisierte „Zivilisation“ das natürliche, ja sogar vorherbestimmte Ergebnis einer Reihe von Eigenschaften und Entdeckungen ist und nicht nur eine von vielen Möglichkeiten, einen Umgang mit Dingen zu finden.

Andere zweifelhafte Behauptungen über unsere Vorfahren ziehen sich durch den ganzen Film. Marr akzeptiert, dass sie „voll entwickelte moderne Menschen waren, genau wie wir“, aber behauptet: Sie wurden „angetrieben von Nahrung, Wasser, Schutz“; dieses Leben, „war eine endlose Suche nach Wild und Obst und Samen“; „Afrika ernährte uns, aber es war immer schwierig und immer gefährlich“ und so weiter. Diese Behauptungen mögen dem Wunsch der BBC dienen, alles so dramatisch wie möglich zu machen. Aber es sind Vermutungen, die auf nichts als Spekulationen beruhen, diesmal eher bezogen auf unsere Vorfahren als auf die heutigen indigenen Völker. Es gibt viele Völker, die heute an Orten leben, die „wir“ als „unbewohnbar“ bezeichnen (weshalb wir sie zumindest noch nicht besiedelt haben); keines dieser Völker scheint jedoch in einem endlosem Kampf mit seiner Umwelt zu leben.

Der Film enthält auch subtilere Botschaften, die darauf schließen lassen, dass die industrialisierte „Zivilisation“ das natürliche, ja sogar vorherbestimmte Ergebnis einer Reihe von Eigenschaften und Entdeckungen ist und nicht nur eine von vielen Möglichkeiten, einen Umgang mit Dingen zu finden – auch wenn es diese eine ist, die sich am stärksten durchgesetzt hat. Zum Beispiel wird uns gesagt, dass Gesellschaften „ohne Chefs … immer sehr schnell auseinanderfallen“. Das entspricht einfach nicht der Wahrheit: In Wirklichkeit haben die meisten nomadischen Jagdvölker heutzutage keine wirklichen Anführer und auch keine sozialen Mechanismen, um zu verhindern, dass sich jemand als Anführer aufschwingt. Aber haben sie einst Häuptlinge gehabt und dann diese Praxis aufgegeben? Wir werden es nie wissen.

Interessanterweise ist dies ein Aspekt, in dem „wir“ industrialisierte Gesellschaften unseren weit entfernten Vorfahren mehr ähneln als heutige Jäger und Sammler. Die meisten Affen leben in hierarchischen Gesellschaften, in denen dominante Männchen Macht (und mehr Weibchen) aneignen und sich ganz anders verhalten als die egalitären Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. (Obwohl wir natürlich nicht wissen, wie hierarchisch unsere Affenvorfahren vor Millionen von Jahren waren, weil diese Spezies nicht mehr existiert.)

Insgesamt ist die Botschaft des Films nicht sehr weit von der kolonialen „gottverordneten“ Natur der europäischen „Zivilisation“ entfernt, die ihren Griff nach der Welt rechtfertigt. Es ist eine alte Doktrin, die im 21. Jahrhundert aus gutem Grund diskreditiert wurde und wird.

Natürlich könnte die BBC darauf antworten, dass der Film nichts als Fernsehen ist, das längst jede ernsthafte erzieherische Rolle aufgegeben hat. Die Kritik, die hier zum Ausdruck kommen soll, wird sicherlich als übermäßig „politisch korrekt“ beschrieben; zweifellos werde ich zu mehr Entspannung gemahnt werden, aber das sind ernste Sachverhalte bezogen auf das Überleben oder das Aussterben ganzer indigener Völker und über unser Selbstbild. Und wenn das Drehbuch nur als Hintergrundgeräusch gedacht ist, um dem Filmmaterial Dramatik hinzuzufügen, sind die „Nachstellungen“ oft schlimmer, um nicht zu sagen lächerlich.

Aber die Verteidigung, dass der Film Unterhaltung ist, die nicht ernst genommen werden soll, wird nicht helfen. Die Serie wird mit Marr von einem hochkarätigen, preisgekrönten und seriösen politischen Journalisten präsentiert. Es wurde von der britischen Open University koproduziert. Glaubt diese Institution wirklich, dass es das ist, was wir jetzt als die Geschichte der menschlichen Entwicklung lernen sollten? Die Ayoreo sind nicht von einer 60.000-jährigen Geschichte umschifft worden, aber die Open University scheint das letzte Jahrhundert ausgelassen zu haben mit ihrer Förderung derartig veralteter und gleichzeitig hochgiftiger Ideen.

Einige Ayoreo sagen: Du kannst diejenigen von uns, die noch im Wald sind, nicht zwingen, das Leben aufzugeben, das sie wünschen.

Unsere Vorfahren können „Die Geschichte des Menschen“ nicht mehr kommentieren. Auch nicht das Ayoreo-Paar, dessen Begegnung mit einem Siedler im Jahr 1998 nachgespielt wurde, denn beide sind – nicht überraschend – an den Folgen des Kontaktes gestorben. Jedoch können andere Ayoreo ihre Gefühle bekannt machen, und das haben sie bereits.

Sie sagen: „Wir haben gehört, dass einige cojñone [weiße Menschen, wörtlich „seltsame Menschen“] sagen, dass wir und unsere Verwandten, die noch im Wald leben, in der Vergangenheit leben, dass wir nicht modern sind, dass wir rückständig sind. Doch wir, die Ayoreo-Totobiegosode, leben wie wir es wollen. Unsere Kultur hat ihren eigenen Weg eingeschlagen. Die von uns, die cojñone kennen, wissen wie sie leben und was sie unter ‘Fortschritt’ verstehen. Du kannst diejenigen von uns, die noch im Wald sind, nicht zwingen, das Leben aufzugeben, das sie wünschen. Und wir werden weiterhin als Ayoreo leben. Wir sind alle modern, weil wir [heute] als Ayoreo existieren, genau wie die cojñone [heute] existieren. Wir leben als Ayoreo im Wald, der uns nährt, wir müssen nicht in die Stadt gehen, wo Nahrung sehr teuer ist.“

In Großbritannien würden die Ayoro vielleicht die BBC verklagen. Das wäre eine Begegnung von „zwei Welten“, die es wert wäre, sich anzusehen.


Eine englische Version des Artikels, mit einer Reaktion der BBC und ausführlichen Fußnoten, ist hier verfügbar.

(1) Marr scheint von 70.000 Jahren auzugehen. Ich habe 60.000 Jahre gewählt, weil dies die Einschätzung von wichtigten Experten ist und ich das Datum auch an anderer Stelle gewählt habe. Natürlich ist die genaue Zeit nicht bekannt.

(2) Eine außergwöhnliche Aufnahme eines Versuches erstmals Kontakt aufzunehmen ist hier verfügbar. Der Versuch führte zum Tod von Indigenen.

(3) Zum Beispiel hier und hier

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