„Wir steckten in der denkbar schlechtesten Position“

Eine Moken-Frau unterwegs auf Lampi Island, Myanmar. © Ralf Obergfell

Survival im Gespräch mit dem Fotografen Ralf Obergfell über das Meer und die Moken

2004 waren Sie in Thailand mit indigenen Fischern unterwegs, als der Tsunami unglaubliche Zerstörung anrichtet. Können Sie schildern, was sich zutrug?

Zu dieser Zeit lebte ich inmitten der semi-nomadischen Chao-Ley, auf einer kleinen Insel in der Andamanensee. Am 26. Dezember 2004 stand ich früh auf, um eine Gruppe von sechs Chao-Ley-Fischern auf ihrer täglichen Fahrt in einem kleinen Langheckboot zu begleiten. Über dem Meer lag etwas Unheimliches an diesem Morgen. Ich bemerkte an der Art, wie die Fischer sich benahmen, dass etwas nicht stimmte. Es sah aus, als würden sie darüber diskutieren, ob wir rausfahren sollten oder nicht, aber am Ende gab der Älteste das Zeichen zum Aufbruch.

Eine Moken-Frau unterwegs auf Lampi Island, Myanmar. © Ralf Obergfell

Innerhalb von etwa 20 Minuten waren wir einige Meilen weit draußen auf dem Meer. Plötzlich deutete einer der Fischer auf einen kleinen weißen Punkt in der Ferne. Wir starrten ihn an, als er sich in unsere Richtung zu bewegen schien. Für mich sah der Punkt wie ein Fußball aus und ich sah zu, wie er größer und größer wurde. Ich hatte keine Ahnung, dass es eine Tsunami-Welle war, die das Meer zerriss wie ein Tornado.

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Erfahrene Seeleute wie die Chao-Ley-Fischer werden dir sagen, dass du, im Angesicht einer großen Welle, so schnell wie möglich weit raus aufs offene Meer musst. Umso tiefer das Wasser ist, umso schwächer ist die Welle. Aber wir waren nicht weit genug draußen, um in Sicherheit zu sein und nicht nahe genug an der Küste, um es zurückzuschaffen, bevor die Welle das Land treffen würde. Wir steckten in der denkbar schlechtesten Position.

Doch der Kapitän schien die Ruhe selbst zu sein, als wüsste er was zu tun sei. Er sagte uns ganz genau wo jeder Einzelne sitzen sollte. Wir wurden von ihm in einer Reihe nach Gewicht und Größe geordnet, sodass wir das Boot gegen die ankommende Welle ausbalancieren konnten. Er sagte, dass wir uns festhalten sollten und ich sah die anderen an, um sicherzugehen, dass ich alles so machte wie sie.

Ich saß auf einer Bank in der Mitte des Bootes, mit dem Rücken zur Welle, welche über 7 Meter hoch sein musste, als ich einen letzten Blick über meine Schulter auf das Monster warf, welches dabei war zuzuschlagen.

Plötzlich hörte ich ein krachendes Geräusch und fühlte einen mächtigen Stoß. Die Welle hatte das Boot getroffen, aber genau in derselben Sekunde tat der Kapitän etwas wirklich Erstaunliches. Auf wundersame Weise schaffte er es das Boot nach oben zu drehen, hinauf auf den Kamm der Welle. Wir surften auf der Welle für ein paar Sekunden, bis das Boot von der Spitze der Welle in das sichere Gewässer dahinter glitt.

Ich konnte es nicht glauben. Kein Tropfen Wasser war in das Boot gespritzt und nichts wurde über Bord gespült. Der Kapitän hatte unser Leben gerettet.

Ein Moken-Fischer auf Lampi Island, Myanmar. © Ralf Obergfell

Sie waren kürzlich wieder unterwegs und haben Moken-Gemeinden in Myanmar besucht. Was hat Sie besonders beeindruckt und was hat Sie erschüttert?

Ich besuchte den Mergui-Archipel in der Andamanensee an der Küste von Myanmar, um die Arbeit an meiner Fotoserie „Urak Lawoi“ fertigzustellen.

Auf Lampi Island, eine der Hauptzentren der Moken, hat die Regierung die Menschen in ein Reservat getrieben und sie gezwungen ihr Nomadenleben aufzugeben. Nun sehen sich die Moken dem Aussterben gegenüber.

Die Lampi-Region wurde bis zu den 70er-Jahren nur von der Moken-Gemeinschaft bevölkert, bis zu jenem Zeitpunkt, an dem zum ersten Mal Gegner des Militärregimes Myanmars auf die abgelegenen Inseln kamen. Als die Regierung im Jahr 1997 begann, spezielle Genehmigungen und Bestimmungen für den Tourismus aufzustellen, wurde ihr Territorium schnell von Außenstehenden überschwemmt.

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Die wirkliche Belastungsprobe für die Moken aber war der große Tsunami von 2004. Er vernichtete ihre Kabangs (Boote), den Mittelpunkt ihres Lebens. Zur selben Zeit trat ein Abholzungsverbot in Kraft, welches praktisch bis heute besteht und die Moken daran hindert, auch nur einen einzigen Baum abzuholzen, um neue Kabangs zu bauen. In der Folge verschwanden die Boote und die Fähigkeiten diese zu bauen, als die ältere Generation begann auszusterben.

Ironischerweise hat sich das korrupte Militär in der Region jahrelang selbst durch illegale Abholzung bereichert. Aber wenn es um die Moken ging, setzte die Regierung eine sehr strenge Politik des „Naturschutzes“ durch, welche ihre Kultur der Nachhaltigkeit nicht berücksichtigte und sie wesentlich benachteiligte. Während die industriellen Schleppnetzfischer die Meere um sie herum komplett leeren, sehen sich die Moken unverschämten Sanktionen gegenüber, wenn sie nur einen einzigen Fisch aufspießen.

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Die Moken waren eine der weltweit letzten Gesellschaften, die ihre Lebensweise und Mobilität frei wählten. Es ist wirklich schockierend, wie sozioökonomischer Druck diese Gemeinschaft in nur wenigen Jahrzehnten beeinträchtigt hat. Heute sind sie im Reservat eingesperrt, wie Tiere im Zoo.

Ich denke, was mich wirklich getroffen hat, als ich sie besucht habe: Wie Globalisierung und ökologischer Druck solch einen verheerenden Einfluss haben konnten. Das wurde eines der Hauptthemen in meinem Fotoprojekt „Urak Lawoi“ und es ist diese Geschichte, die ich den Menschen begreiflich machen möchte, wenn sie meine Bilder sehen.

Eine Angehörige der Moken auf Lampi Island, Myanmar. © Ralf Obergfell

Indigene Völker werden oft als „primitiv“ und „rückständig“ angesehen, weil sich ihr Lebensstil von unserem unterscheidet. Was denken Sie über solche Aussagen?

Diese Menschen leben nachhaltig. Wir alle könnten viel von ihnen lernen. Die Moken legen sehr viel Wert darauf keine materiellen Güter anzuhäufen, was das komplette Gegenteil des kapitalistischen Materialismus ist. Wenn du dir ansiehst, was globaler Kapitalismus an Zerstörungen für Gemeinschaften und unseren Planeten verursacht hat, dann hast du dich, wie ich denke, selbst zu fragen, ob wir nicht einen ähnlichen anti-materialistischen Lebensstil annehmen sollten.

Eine andere Sache ist der Wert, den die Moken auf traditionelle Fähigkeiten und Erkenntnisse legen. Es ist wirklich bewundernswert, dass von den 230.000 Opfern des Tsunamis von 2004, keines als See-Nomade identifiziert wurde. Ein Hauptgrund dafür ist ihr überliefertes Wissen über die la-boon ( die 7. Welle), welches von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Moken sind Animisten. Sie glaubten, dass eine la-boon von den Geistern ihrer Vorfahren gesandt werden würde, um das Böse der Welt wegzuwaschen. Gemäß ihrer Tradition müssen sie, sobald eine la-boon kommt, sich entweder zu den hohen Bergen bewegen oder ins tiefe Gewässer raussegeln.

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Wir können das als „primitive“ Lebensweise abtun, tatsächlich aber rettete ihre Lebensweise die Moken vor der totalen Zerstörung. Was mich als sogenannten „entwickelten“ Abendländer betrifft, ich weiß, ich hätte den Tsunami niemals überlebt, hätte es nicht den Chao-Ley-Kapitän und seine Lebenserfahrung und sein Wissen gegeben. Die Männer auf dem Boot wussten ganz genau was zu tun war, als die Welle das Boot traf. Sie hatten das Wissen und die Fähigkeiten die es braucht, um in ihrem Lebensraum zu überleben. Ich schulde ihnen mein Leben. Ich bin der lebende Beweis für die Bedeutung von traditionellem Wissen.

Nach dem was Sie erlebt und gesehen haben, was glauben Sie ist nützlich und wichtig für indigene Völker?

Um es einfach zu machen: Respektiere sie und lasse sie gemäß ihres Glaubens in dem Lebensraum leben, den sie achten. Zwinge sie nicht, sich einer Gesellschaft anzupassen, welche ein völlig gegenteiliges Wertesystem vertritt.

Indigene Menschen brauchen Schutz, und das bedeutet, ihre Gebiete zu respektieren. Ihre natürlichen Häuser sind lebensnotwendig für ihre Kultur und ihre gesamte Lebensweise.

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Es ist genauso wichtig aufzuhören, indigene Menschen und Nomaden wie eine Touristenattraktion zu behandeln. Der Lampi National Marine Park gibt sogar einen Reiseführer heraus, um die Moken groß herauszubringen, was ironisch ist, weil der Tourismus ihr Leben nur noch mehr verkompliziert hat.

Ich denke das Beste, was wir tun können, ist, die Moken und andere indigene Menschen ihre eigene Lebensweise wählen zu lassen. Unsere Regierungen haben einen schrecklichen Job geleistet bei dem Versuch ihnen zu „helfen“ und in den meisten Fällen haben sie alles nur schlimmer gemacht. Die Moken wissen am besten, wie sie sich um sich selbst kümmern und wie sie dafür sorgen, dass ihre Gesellschaft überleben kann. Wir müssen nur sicherstellen, dass sie die Chance bekommen weiterzumachen.

Dieses Interview führte Survival im Mai 2017

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