Geschenke für unsere Menschheit
Traditionelles Wissen in unseren Supermärkten und Universitäten
– von Lautaro Alonso Sancho –
Spektakuläre Luftaufnahmen von unkontaktierten Völkern, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, die ab und zu in den Medien auftauchen, können uns kaum überzeugen, dass indigene Völker zeitgenössische Gesellschaften sind, die gemeinsam mit uns im Hier und Jetzt existieren. In unserer Vorstellung werden indigene Völker oft ins frühe Stadium der menschlichen Evolution verbannt.
In Wirklichkeit verfügen sie jedoch über ein riesiges und hoch entwickeltes Wissen, welches sie sich über Jahrhunderte angeeignet haben. Es findet sich auf unseren Tellern, in unseren Getränken, Medikamenten, unseren elektronischen Geräten und sogar in unserer Kleidung wieder. Ohne es zu wissen, bereichern indigene Völker täglich unsere Welt.
Auch im Bereich sozialer Innovationen haben viele indigene Völker einen unbestrittenen Vorsprung gegenüber unseren Gesellschaften. Vom gleichberechtigten Status der Frau, über die nachhaltige Nutzung von natürlichen Ressourcen, bis hin zur gesellschaftlichen Rolle von Personen, die sich als Transgender identifizieren: Sie können einiges dazu beitragen, Lösungen auf heutige Herausforderungen zu finden.
Trotzdem unterdrücken industrialisierte Gesellschaften indigene Völker mit Rassismus, Sklaverei und genozidaler Gewalt, damit sie im Namen von „Fortschritt“ und „Zivilisation“ ihr Land, ihre Ressourcen und ihre Arbeitskraft rauben können.
Gierig auf indigenes Wissen
Im industriellen Bereich stellt Kautschuk eine der größten Entdeckungen unserer Zeit dar. In Form von Latex, welches aus der gleichnamigen Pflanze gewonnen wird, findet man es überall (Handschuhe, Präservative, Sohlen, Reifen, Kabel, usw.). Es werden sogar spezielle Preise verliehen, die Innovationen im Bereich Kautschuk und Latex auszeichnen. Der erste Heißluftballon wurde mit Kautschuk imprägniert. Auch unsere ersten Radiergummis wurden aus Latex hergestellt.
Die Geheimnisse des Kautschuks wurden von indigenen Völkern preisgegeben, welche diese schon seit Jahrtausenden kannten. Allerdings führte dieses Geschenk an die Menschheit zum „Kautschukboom“, in dessen Verlauf 90 % der indigenen Bevölkerung Südamerikas versklavt oder Opfer enormer Brutalität wurden.
„Wir müssen immer tiefer in die Wälder vordringen um Kautschuk zu ernten. Wenn wir keines zurückbringen, oder nicht schnell genug sind, dann schießen sie auf uns.“ (Omarino und Ricudo, indigene Sklaven, die 1910 nach Großbritannien gebracht wurden)
Auch wenn der Regenwald für die Medizin ein „riesiges Laboratorium unter freiem Himmel“ darstellt, oder sogar als „Paradies der Medizin“ bezeichnet werden kann, so muss doch anerkannt werden, dass sich der Schlüssel zu diesem Paradies in den Händen indigener Völker befindet. Es wird geschätzt, dass Pflanzen – die bereits von Indigenen genutzt wurden – für die Herstellung der Hälfte aller heutigen verschreibungspflichtigen Medikamente eine wichtige Rolle gespielt haben. Dazu gehören Medikamente zur Behandlung von Leukämie bei Kindern, pharmazeutische Mittel zur Verhütung für Männer und Produkte für die Zahnhygiene. Das US-amerikanische National Cancer Institute (NCI) schätzt, dass 70 % der Pflanzen, die reich an Anti-Krebs-Wirkstoffen sind, aus dem Regenwald stammen. Die Erfolgsquote der Entdeckung von Heilpflanzen ist unter indigenen Völkern ausgesprochen hoch. Eine Studie der Universität Uppsala in Schweden wies nach, dass 86 % der Pflanzen, die von Heilern auf Samoa verwendet werden, eine hohe pharmakologische Wirkung haben. Auch Aspirin ist Teil einer großartigen medizinischen Entdeckung indigenen Ursprungs, dessen aktiver Inhaltsstoff von der Weidenrinde (Laubgehölz) stammt, die Indigene in Nordamerika als Heilmittel für Kopfschmerzen benutzten.
Mode
Im Modebereich, vielleicht der Glorifizierung von Kreativität und Ästhetik schlechthin, werden Elemente indigener Kultur als Ressource erster Wahl verwendet. Dort findet man unter unterschiedlichen Herkunftsbezeichnungen die Spuren indigener Kulturen. „Ethno-Tendance“, „Origins Fashion“, „Indigenous Design“ sind nur einige Beispiele von Labels. Leider wird dieser Hauch an indigener Inspiration häufig kaum explizit gemacht, manchmal komplett ignoriert. Wer wüsste zum Beispiel, dass eines der meist verkauften Sneaker-Modelle von Nike in Deutschland 2016, „Huarach“ genannt, vorkolumbianischen Sandalen nachgeahmt wurde. Bekannt wurden diese Sandalen durch die legendären indigenen Rennläufer der Tarahumaras aus Mexiko.
Lebensmittel
In der Lebensmittelbranche sind Kenntnisse indigener Völker ebenfalls sehr beliebt. Produkte wie Schokolade (von den Azteken), Kaffee (von den Oromo) oder Kartoffeln (von den Inkas), die unsere Essgewohnheiten in Europa revolutioniert haben, sind indigenen Völkern seit Jahrtausenden bekannt. Es ist nicht verwunderlich, dass zahlreiche Produkte auf dem Markt (z. B. Macca, Mate, Stevia, Moringa) Teil von traditionellen Praktiken indigener Völker sind. Gegenwärtig erzielen sogenannte „Superfoods“ einen immer höheren Status im Lebensmittelmarkt. Sehr wahrscheinlich würden wir diese Produkte ohne indigene Völker nicht kennen. Übrigens weckte der in den Frachträumen der Segelschiff transportierte Mais aus der „Neuen Welt“ einst dieselben Hoffnungen bei den europäischen Bürgerlichen der Renaissance wie die gegenwärtigen Superfoods heute bei uns.
Immatrielle Beiträge
Auch immaterielle Beiträge indigener Völker werden von immer größerer Relevanz und Brisanz. Sie betreffen die soziopolitischen Organisationsformen, den künstlerischen Ausdruck, die Überzeugungen, die indigenen Sprachen und noch vieles mehr. Heute häufen sich zudem die Beweise dafür, dass sich indigene Völker so gut um ihre Umwelt kümmern wie niemand sonst. Sie sind die besten Umweltschützer und Wächter der Natur. Ohne Zweifel ein Dienst, der für uns alle von großer Bedeutung ist.
Womit wir noch eine Frage zu klären hätten: Werden indigene Völker also einzig und allein als rückständig und primitiv dargestellt, weil sich ihr Gemeinschaftsleben von unserem unterscheidet? Ein großer Fehler, denn woher sollen Innovationen und kreative Ideen kommen, wenn nicht aus menschlicher Vielfalt.