„Wenn ein Tiger unser Vieh tötet, sind wir nicht wütend“
Die Survival-Mitarbeiterin Fiore Longo hat die Chenchu in den Tiger-Reservaten Amrabad und Nagarjunasagar-Srisailam in Indien besucht.
Die Mitglieder des indigenen Chenchu-Volkes betrachten den Tiger als ihren Bruder.
Sie verstehen ihren Wald und seine Wildtiere besser als jede*r andere und haben ihre Umwelt jahrtausendelang geformt, gepflegt und geschützt. Trotzdem zerstört die Regierung – mit ihren Bemühungen zum Schutz des Tigers – die Leben der Chenchu.
„Unsere Vorfahren haben uns eine wichtige Sache gelehrt: Liebt und respektiert den Wald und er wird euch versorgen. Wir benötigen hier kein Geld um zu essen und zu leben. Dieser Wald ist unser Atem und unser Leben.“
Die Chenchu können fünf verschiedene Bienenarten unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Sorten Honig produzieren. „Wir überlassen die Bienenlarven sich selbst, sodass sie sich entwickeln können; wenn wir den Flug der Bienen beobachten, können wir herausfinden, wo der Honig ist.“
Außenstehende denken, dass Tiger und Mensch eine Bedrohung für einander darstellen, aber die Chenchu, die Tag für Tag mit den Tieren zusammenleben, haben eine andere Meinung: „Wir lieben sie wie wir unsere Kinder lieben. Wenn ein Tiger oder ein Leopard unser Vieh tötet, sind wir nicht enttäuscht oder wütend, stattdessen empfinden wir es, als ob ein Bruder zu Besuch gekommen ist und gegessen hat, was er wollte.“
Mehr und mehr Studien belegen, dass sich indigene Völker so gut um die Pflanzen und Tiere in ihrer Umgebung kümmern wie niemand sonst. Dennoch wird den Chenchu und anderen indigenen Völkern damit gedroht, sie illegal von ihrem angestammten Land zu vertreiben. „Wir werden jeden einzelnen Tropfen unseres Blutes vergießen, um unsere Rechte und unseren Wald zu schützen. Dieser Wald ist unser Zuhause. Die Flora und Fauna dieses Waldes ein Teil unserer Familie. Ohne uns wird der Wald nicht überleben und ohne den Wald werden wir nicht überleben.“
Nach indischem Gesetz darf eine Umsiedlung von Indigenen aus ihrem Gebiet nur erfolgen, wenn es Beweise dafür gibt, dass die Gemeinde der Flora und Fauna irreversibel Schaden zufügt und dass die Koexistenz mit Wildtieren nicht möglich ist.
Wenn die Gemeinde ihr Einverständnis dazu gibt, müssen die Behörden ihr laut Gesetz eine der zwei Optionen zur Umsiedlung anbieten: Entweder eine finanzielle Kompensation von 10 Lakh Rupien pro Familie (umgerechnet etwa 12.800 Euro) oder die Möglichkeit in ein Umsiedlungsdorf zu ziehen. Dies geschieht aber in der Realität nicht.
Diese Frau stammt aus dem Dorf Pecheru, das in den 80er Jahren umgesiedelt wurde. Die Chenchu-Frau berichtete uns, dass von den 750 Familien, die ursprünglich in diesem Dorf wohnten, nur 160 Familien die Umsiedlung überlebt haben. Viele seien verhungert. „Der Gedanke daran macht uns Angst – wir wollen es nicht sehen. Wir werden die Sicherheit, die wir hier haben, nirgendwo anders bekommen. Viele von uns würden an Depressionen sterben, unfähig mit dem neuen Leben zurechtzukommen. Und der Rest von uns würde einen langsamen und schrecklichen Tod sterben.“
„Unter uns gibt es reine Liebe und starke Beziehungen. Aber außerhalb ist es nicht das Gleiche. Alles ist mit Geld verbunden. Wenn du kein Geld hast, gibt es keine Nahrung und kein Wasser. Kein Geld bedeutet kein Haus und keine Kleidung. Es ist eine schamlose Welt da draußen, in der nichts rein ist. Von der Luft, die wir atmen, über die Beziehungen, die wir aufbauen – alles ist unrein dort. Wir werden die Sicherheit, die wir hier im Wald haben, nirgendwo anders bekommen.“
Die Chenchu haben einen Brief veröffentlicht, in dem sie verlangen in ihrer Heimat bleiben zu dürfen. „Seit der Zeit unserer Vorfahren sind wir in diesem Wald geboren und gestorben – wir werden auch weiterhin in genau diesem Wald sterben. Dieser Wald ist unser Atem und unser Leben. Dieser Wald ist unser Recht und niemand kann uns dieses Recht entziehen und unsere Verbindung zerstören. Wir werden jeden einzelnen Tropfen unseres Blutes dafür vergießen, um unsere Rechte und unseren Wald zu schützen.“
Die Originalversion dieses Artikels erschien am 27. Juli 2018 auf National Geographic Blog.
Übersetzung ins Deutsche durch Survival International.