Nitassinan: In den Fußstapfen der Innu-Vorfahren
Survival begleitete 2012 eine Gruppe Innu auf einer Wanderung durch das Land ihrer Vorfahren im Nordosten Kanadas.
Während des subarktischen Winters, wenn die Wasserwege ihrer Heimat Nitassinan zu Eis erstarrten, wanderten die Innu mit Schneeschuhen durch das Landesinnere, auf der Suche nach umherziehenden Rentierherden. Im Sommer, wenn das Eis sich zurückzog, reisten die Innu in handgefertigten Kanus aus Birkenrinde bis an die Atlantikküste.
In den 1950er und 1960er Jahren wurden sie jedoch von der Regierung und der katholischen Kirche gedrängt sich dauerhaft in Siedlungen niederzulassen. Große Teile ihres Landes wurden konfisziert und die Jagd von Rentieren strikt reguliert.
Ein ganzer Lebensstil wurde destabilisiert. Die Folgen für die Menschen waren katastrophal.
© Georg Henriksen
Frauen und Männer vom Volk der Innu, die lange ein aktives, unabhängiges Leben in und mit der Natur geführt hatten, wurden sesshaft – und depressiv.
Raten von Diabetes, Alkoholmissbrauch und Selbstmord schnellten in die Höhe, während ihr Selbstwertgefühl immer weiter sank.
Wenn ein Innu vor einigen Jahren einen Sozialdienst aufsuchte und nach seinem Beruf gefragt wurde, sagte er ‚Jäger’, erzählt der Innu Jean-Pierre Ashini. Heute lautet seine Antwort ‚arbeitslos’.
© Joanna Eede/Survival
Im Winter 2009 hatte ‘Giant’, ein Innu aus der Gemeinde Sheshatshiu mit einer Geschichte von Alkoholmissbrauch, einen Traum, in dem sein Großvater zu ihm sprach.
Steh auf und hilf deinem Volk, sagte er zu seinem Enkel. Steh auf und lauf.
Für die Innu sind Träume sehr bedeutsam. Giant gab das Trinken auf, nahm seinen Schlitten und lief gen Norden über die gefrorenen Gewässer von Atatshuinapek (Lake Melville), immer entlang der Pfade seiner Vorfahren.
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In den nächsten drei Jahren legte Giant fast 4.000 Kilometer zurück. Bis Anfang 2012 hatte er auch Läufer aus Gemeinden aus ganz Québec und Labrador inspiriert, ihn auf dem letzten Abschnitt seiner Reise zu begleiten.
Giants Ziel war es, auf das eskalierende Diabetes-Problem seines Volkes aufmerksam zu machen und die Verbindung junger Innu an nutshimit (das Land) wieder zu stärken.
Geschätzte 15 Prozent der Menschen in Giants Gemeinde haben Diabetes – ein Resultat von Fettleibigkeit, Alkoholismus, schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung. Was wäre denn in zehn Jahren? Dann könnte die ganze Gemeinde an Diabetes leiden. Jeder könnte Gliedmaßen verlieren, fürchtet Giant.
© Alex Andrew
Sechs Stunden täglich trugen ihre Schneeschuhe die Läufer über gefrorene Seen, durch Täler mit Fichtenwäldern, in denen die Grauwölfe den Rentierherden folgen, bis hinauf in die bergige Tundra der Barren Grounds, die Heimat der Mushuau-Innu.
© Joanna Eede/Survival
Die Beziehung der Innu zu nutshimit ist die Wurzel ihrer Identität.
Die Innu besitzen detailliertes Wissen über ihre Pflanzen und Tiere: Den goldenen Saft der Fichten beispielsweise nutzen sie als Klebemittel für Kanus, als Salbe gegen Sonnenbrand und als Kaugummi.
Das Land ist unser Leben sagt der Innu-Älteste George Rich. Ohne das Land bist du nichts. Alles was mit dem Land verbunden ist, ist ein Symbol dafür, was du als menschliches Wesen bist.
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Kiefern schützen die Zelte vor den kalten Nordostwinden.
Die Lagerstätten wurden von Ältesten gewählt – von Männern, die in nutshimit groß geworden sind und von ihren Eltern und Großeltern traditionelle Jagdtechniken gelernt haben.
Leben auf dem Land war für mich wie eine Schule, sagt Grégorie Gabriel. Meine Großmutter brachte mir bei wie man Hasen kocht. Wir arbeiteten mit Sensen und machten Kerzen aus Rentierfett.
Als Innu-Kind begann hier meine Ausbildung.
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Wenn die Sonne untergeht, sinkt auch die Temperatur am Mushuau Shipu (George River) schnell.
George River ist die Heimat der weltweit größten Rentierherde. Große Teile ihres Weidelandes wurden in den letzten Jahren jedoch durch den Abbau von Eisenerz und den Bau von Straßen beinträchtigt.
Die Herde, die früher bis bis zu 900.000 Tiere zählte, ist heute auf nur noch 74.000 geschrumpft.
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In dem traditionellen Innu-Zelt wird der Ofen aus Metallblättern die ganze Nacht mit trockenem Wacholder warm gehalten.
Fichtenzweige, die in einem komplexen, überlappenden Muster auf den Boden gelegt werden, bieten Schutz gegen die Kälte.
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Die Federn von Schneehühnern liegen auf dem Eis. Dazwischen Tropfen von Rentierblut und Fußspuren der Huskys.
Das Land ist unser Essen, sagt der Älteste, Joe Pinette. Wir jagen und stellen Fallen. Das ist was Innu tun.
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Die Innu teilen das Fleisch genau untereinander auf. Sie behalten auch die Beinknochen der Tiere, denn sie wegzuwerfen wäre respektlos gegenüber kanipinikat sikueu, dem Meister der Rentiere.
Kein Teil des Rentieres wird verschwendet. Die Geweihe werden in die Bäume gehängt.
© Joanna Eede/Survival
Innu-Frauen haben tiefe Löcher in das Eis gebohrt, um nach Seeforellen zu fischen.
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Das Schnüffeln von Dämpfen ist unter Innu-Jugendlichen weit verbreitet.
Joel, mit 15 der jüngste Teilnehmer an Giants Lauf, schnüffelt mit seinen Freunden in der Gemeinde Natuashish regelmäßig Gas. In nutshimit jedoch fühlt er sich stark. Das Land fühlt sich gut an. Ich mag es nüchtern zu sein, sagt er.
Auf dem Land gibt es weder Drogen noch Alkohol, sagte Grégorie Gabriel. Der traditionelle Lebensstil der Innu ist ein gesunder.
© Joanna Eede/Survival
Zwischen den Kisten mit Lebensmitteln und den Dosen für das Heizöl, verrät die Jacke eines Läufers etwas von den Tragödien, die so viele Innu-Familien erlebt haben.
‚Justin’, ein Jugendlicher aus Natuashish, hat erst vor einiger Zeit Selbstmord begangen.
Um an ihn zu erinnern, liefen seine Freunde durch das Eis.
© Joanna Eede/Survival
Ich liebe dieses Land. Ich liebe jedes Stück davon, sagt Joachim Michel.
Meine Vorfahren liefen auf diesen Wegen. Ich kann sie hier immer noch spüren.
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Giants Lauf hat Selbstbewusstsein und kollektiven Stolz auf ihre Innu-Herkunft in den Menschen geweckt. Etwas, was die Regierung und die Kirche mit so viel Einsatz auszulöschen versucht haben, sagt Stephen Corry von Survival International.
Der einzigartige Geist der Innu ist noch immer lebendig, trotz der Ungerechtigkeiten der letzten Jahrzehnte.
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Ich bin Innu. Das Land ist mein Leben.
Wenn ich in das Land hinaus laufe, habe ich das Gefühl nach Hause zu kommen, an meinen Ort.
Den Innu-Ort.
Elizabeth Penashue, Älteste
© Alex Andrew
Noch bis vor 50 Jahren lebten die Innu als halbnomadische Jäger und Sammler.
© Katie Rich