Indigene Kinder
Survivals Fotostrecke gibt Einblicke in faszinierende Lebenswelten und prangert die Bedrohungen an, die die Zukunft indigener Kinder gefährden.
Hinweis: Bild 5 kann verstörend wirken.
Sie sind die Erben der Lebensweisen ihrer Völker, ihrer Sprachen und ihrer Ökosysteme. Vom Amazonasregenwald bis in die sibirische Tundra sind indigene Kinder die Zukunft ihrer Gesellschaften.
Doch seit Jahrhunderten wird das Land indigener Völker abgeholzt, abgetragen, geräumt und abgebrannt. Seine indigenen Bewohner wurden fast nie befragt – aber fast immer vertrieben.
Der Verlust ihres Landes ist oft die Wurzel des Leidens indigener Kinder. Kindersterblichkeit, Abhängigkeiten und Selbstmorde unter Jugendlichen sind, genauso wie chronische Erkrankungen und verkürzte Lebenserwartung, einige der Folgen, wenn indigene Kinder und ihre Familien gezwungen werden, sich der Hauptgesellschaft anzupassen.
© Mike Goldwater/Survival
In den satten grünen Wäldern des brasilianischen Amazonasregenwaldes lernen die Kinder der Awá schon von Beginn an, wie sie überleben können.
Die Jungen spielen mit kleinen Pfeilen und Bogen, um die Fertigkeiten eines erfolgreichen Jägers zu erlernen; die Mädchen üben Früchte zu sammeln und daraus Açaí-Saft zu pressen.
Allen Awá-Kindern geben die Älteren ein enzyklopädisches Wissen über ihren Wald mit auf den Weg.
© Domenico Pugliese
Doch dieser einzigartige Wissensschatz ist bedroht.
Der Wald der Awá verschwindet rasend schnell. Eines ihrer geschützten Territorien wurde bereits zu 30 Prozent von Holzfällern und Viehzüchtern zerstört.
„Die Außenstehenden kommen hierher und auf einmal scheint es, als würde unser Wald aufgefressen“, sagt Takia Awá.
Doch die Awá kämpfen entschlossen für die Zukunft ihrer Kinder. Anfang 2014 konnten sie gemeinsam mit Survival International einen wichtigen Erfolg erringen und die Ausweisung zahlreicher illegaler Holzfäller und Siedler erreichen.
© Fiona Watson/Survival
Die Guarani in Brasilien waren wohl unter den ersten indigenen Völkern, die nach der Ankunft der Europäer in Südamerika mit den Siedlern in Kontakt kamen.
Damals lebten die Guarani in den Wäldern und Ebenen Brasiliens und ihre Heimat erstreckte sich über rund 560.000 Quadratkilometer. Heute haben sie fast ihre gesamte angestammte Heimat verloren; sie drängen sich auf winzigen Inseln verbliebenen Landes, umgeben von einem Meer aus Viehweiden, Soja und Zuckerrohr. Einigen ist nicht einmal dieses wenige geblieben und sie leben in Lagern am Straßenrand.
In den letzten 30 Jahren haben sich mehr als 625 Guarani das Leben genommen. Die Mehrheit der Opfer war zwischen 15 und 29 Jahre alt. Das jüngste bekannte Opfer war gerade einmal neun Jahre.
© Paul Patrick Borhaug/Survival
„Die Guarani begehen Selbstmord, weil wir kein Land haben", sagt ein Angehöriger der Guarani.
„In den guten alten Zeiten waren wir frei. Wir sind es nun nicht mehr. Also glauben unsere jungen Menschen, dass ihnen nichts übrig bleibt."
„Sie setzen sich hin und denken, verlieren sich und begehen Selbstmord."
© João Ripper/Survival
„Ich wuchs als Jäger auf", sagt Roy Sesana. „Ich kann nicht lesen. Aber ich weiß, wie man das Land und die Tiere liest. Alle unsere Kinder konnten das."
Die Buschleute sind die ursprünglichen Bewohner des südlichen Afrikas. Über Jahrtausende haben sie ihre Jagdfähigkeiten entwickelt und angepasst, um ihre Gemeinden zu versorgen, ohne dabei ihre lokale Umwelt zu zerstören.
Die Jungen bekamen kleine Bogen und Pfeile, um damit Ratten und kleine Vögel zu jagen. Ihnen wurde beigebracht, Springhasen zu töten und Decken aus der Haut von Gamsböcken zu machen. Mädchen halfen ihren Müttern schon im Alter von fünf Jahren dabei, Pflanzen, Beeren und Wurzeln zu sammeln. Den Kindern wurde vermittelt mutig und bescheiden zu sein, und dass Großzügigkeit bewundert, Eigennützigkeit jedoch abgelehnt wird.
Heute jedoch haben viele Buschleute ihre Lebensweise aufgeben müssen. In Botswana leben ihre Kinder – nach der Vertreibung aus ihren Jagdgründen im Central Kalahari Game Reserve (CKGR) – unter armseligen Bedingungen in Umsiedlungslagern. Die Lager gelten als „Orte des Todes", wo AIDS weit verbreitet ist und das Leben ohne die Jagd und wichtige Rituale Depressionen und Alkoholismus begünstigt.
© Survival International
Die Kinder der Buschleute dürfen ihr angestammtes Land im Central Kalahari Game Reserve nur bis zum 16. Lebensjahr ungehindert betreten. Danach müssen sie jeweils einmonatige Genehmigungen beantragen, um Zutritt zu erlangen.
Seit September 2013 ruft Survival International aufgrund der Misshandlung der Buschleute zum Reiseboykott für Botswana auf. Die Regierung versucht die Buschleute aus dem CKGR zu vertreiben, aber wirbt gleichzeitig mit Bildern von Buschleuten und ihren Kindern um Touristen.
„Wenn nicht allen Buschleuten erlaubt wird ungehindert auf ihr angestammtes Land zurückzukehren, werden ihre Kinder nicht die einzigartige Lebensweise ihrer Familien erlernen können, sondern in Abhängigkeit, Verzweiflung und Krankheit leben", sagt Stephen Corry von Survival.
© Dominick Tyler
Bei den Yanomami, im brasilianischen Amazonasgebiet, lernen Jungen die Spuren der Tiere zu lesen, Pflanzensaft als Gift einzusetzen und Bäume mit Lianen hinaufzuklettern.
„Damals nahm mich meine Mutter immer mit sich in den Wald, um Krabben zu suchen, mit Timbó zu fischen oder wildwachsende Früchte zu sammeln", sagt der Yanomami-Schamane Davi Kopenawa.
„Ich bin auch mit ihr auf die Felder gegangen, wenn wir Maniok oder Bananen ernten oder Feuerholz holen mussten. Manchmal würden mich im Morgengrauen auch die Jäger zu sich rufen, wenn sie sich auf den Weg in den Wald machten. So wuchs ich im Wald auf.”
© Claudia Andujar/Survival
In den letzten Jahren gab es wiederholt beunruhigende Berichte darüber, dass Yanomami-Teenager und junge Frauen durch Soldaten der brasilianischen Armee sexuell ausgebeutet werden. Mit Lebensmitteln und Alkohol werden sie zu sexuellen Handlungen genötigt, die oft zu ungewollten Schwangerschaften führen oder die Übertragung von Krankheiten begünstigen.
„Als die Armee kam, begannen sie die Indianer zu belästigen", sagt Davi Kopenawa. “Sie forderten die Frauen auf, mit ihnen zu schlafen und gaben ihnen Essen, Reis und Mehl im Tausch. Sie benutzten die Indianer. Jetzt sind wir krank. Die Soldaten haben Krankheiten übertragen, die Frauen leiden an Gonorrhö und Syphilis.”
© Fiona Watson/Survival
Im Kongobecken trägt eine „Pygmäen“-Frau ihr Kind, während sie wilde Pflanzen und Nüsse im Wald sammelt.
Seit Jahrzehnten sind die „Pygmäen" Opfer von Landraub, in der Regel im Namen des Naturschutzes, und sie leiden unter den Konsequenzen von Bergbau, Abholzung und Palmölplantagen.
Sorge erwecken auch Pläne, in der Grenzregion zwischen Kamerun und Kongo, Eisenerz abzubauen. Dies würde auch eine neue Eisenbahnstrecke bedeuten, die unzählige Arbeiter in die Region bringen und somit den Druck auf die Lebensgrundlage Tausender Baka-„Pygmäen" weiter erhöhen würde.
© Kate Eshelby/Survival
Die Gesundheit vieler Baka, Mbendjele und anderer „Pygmäen"-Kinder hat sich nach dem Sesshaftwerden ihrer Gemeinden verschlechtert, etwa aufgrund unausgewogener Ernährung und zunehmender Verbreitung ansteckender Krankheiten.
In den Regenwäldern im ganzen zentralen Afrika wird die Suche nach Jagdwild für die „Pygmäen" immer schwieriger. Viele Gebiete sind überjagt, weil in benachbarten Städten und den Holzfällercamps die Nachfrage nach Bushmeat steigt. Außerdem wir auch legal gejagtes Wild oft von den Behörden in den Nationalparks konfisziert.
Einige Mbendjele-Kinder in der Republik Kongo werden auch von Händlern auf den Märkten beschäftigt, um Latrinen zu reinigen. Häufig werden sie nur mit Klebstoff bezahlt, dessen halluzinogene Dämpfe sie inhalieren.
© Survival International
Der Nordosten Kanadas ist eine subarktische Fläche aus Tundra, Seen und Wäldern. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten die Innu hier als nomadische Jäger, größtenteils angewiesen auf die Rentierherden, die jeden Frühling und Herbst durch ihr Land zogen.
Doch in den 50er und 60er Jahren drängten die kanadische Regierung und die katholische Kirche die Innu, sich als sesshafte Gemeinden niederzulassen. Die Enteignung ihrer Heimat, die sie Nitassinan nennen, bedeutet für sie Arbeitslosigkeit, Diabetes und andere chronische Erkrankungen, rekordverdächtige Selbstmordraten und die Abhängigkeit ihrer Kinder vom Benzinschnüffeln.
Als „beschämend" beschreibt ein junger Innu das Gefühl, in den Siedlungen aufzuwachsen: „Es gibt einem das Gefühl, sich dafür schämen zu müssen, Innu zu sein."
(Bild zeigt Innu-Kinder in Davis Inlet, Kanada)
© Dominick Tyler
Der Missbrauch von Lösungsmitteln ist unter Innu-Kindern und Teenagern ein großes Problem, genau wie Fettleibigkeit und Diabetes.
Schon Kinder im Alter von 10 Jahren werden mit Diabetes Typ-2 diagnostiziert, einer Krankheit, die sich unter den Innu erst ausbreitete, nachdem sie gedrängt wurden sesshaft zu werden. Typ-2-Diabetes war früher größtenteils eine Gefahr für Personen über 40, doch inzwischen wird die Erkrankung schon bei vielen jungen Innu ab Mitte 20 diagnostiziert.
Experten glauben, dass junge Menschen mit Diabetes Typ-2 ein zweimal höheres Risiko haben an der Erkrankung und ihren Folgen zu sterben, als mit Diabetes Typ-1. Und dies nach einer deutlich kürzeren Erkrankungsdauer.
„Ich erinnere mich an dieses Land, als ich noch ein Kind war, vor etwa 15 Jahren. Da gab es weder Diabetes noch Krebs. Unsere Großeltern jagten und aßen gesundes Essen vom Land“, sagt der Innu Michel Andrew.
„Diabetes hat in indigenen Gemeinden epidemische Ausmaße angenommen und gefährdet somit sogar ihr Überleben“, warnt Professor Jean-Claude Mbanya, Präsident der International Diabetes Foundation.
© Dominick Tyler
2013 blockierten die Penan im malaysischen Bundesstaat Sarawak über 70 Tage lang die Baustelle des Murum-Staudamms, der ihren Wald und ihre Häuser zu überfluten drohte. Sie forderten höhere Entschädigungen und mehr Land.
Bei den Protesten wurden acht Penan festgenommen und auf eine Polizeiwache gebracht. Unter ihnen soll auch ein 13-jähriger Junge gewesen sein. Zwei weitere Penan, darunter ein 16-jähriger Junge, wurden ebenfalls festgenommen, als sie versuchten ihre Angehörigen auf der Polizeiwache zu besuchen.
© Andy Rain/Survival
Ein Chakma-Baby in Bangladesch wird von seiner Mutter in ein traditionelles Kinderbett, ein dhulon, gelegt. Mit sogenannten olee daagaanaa-Liedern wird es in den Schlaf gesungen.
Seit Bangladesch 1971 die Unabhängigkeit von Pakistan erlangte, mussten die Jumma-Völker in den Chittagong Hill Tracts, eine bergigere Region im Südosten, einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen Asiens erleben.
Die Jumma, die als sanft, mitfühlend und religiös tolerant beschrieben werden, unterscheiden sich ethnisch und sprachlich von der Bengali-Mehrheit.
© David Brunetti
Heute sind die Jumma auch eines der unterdrücktesten indigenen Völker.
Die Rate der sexuellen Gewalt gegen Jumma-Frauen und junge Mädchen ist alarmierend hoch: 2013 wurden mindestens elf Jumma-Frauen und -Mädchen Opfer sexueller Gewalt; sieben Opfer waren jünger als 16 Jahre.
Die tatsächliche Zahl ist aber möglicherweise noch höher, da Vergewaltigungen oft wegen der sozialen Stigmatisierung nicht gemeldet werden.
„Es wurde wenig getan, um die Straftäter rechtlich zu verfolgen“, sagt Sophie Grig von Survival International. „Weil ihre Angreifer straflos davon kommen, sind Jumma-Frauen und -Mädchen noch gefährdeter.“
© Mark McEvoy/Survival
Viele indigene Völker betrachten das Leben auf lange Sicht und berücksichtigen bei ihren täglichen Entscheidungen die langfristige Gesundheit der Umwelt und das Wohlbefinden zukünftiger Generationen.
Damit das Leben indigener Kinder frei von Unterdrückung, Ausbeutung und Rassismus sein kann, müssen die Regierungen und Unternehmen, die die Rechte indigener Völker verletzen, ein ähnlich nachhaltiges Denken akzeptieren und weiter schauen, als nur auf ihren unmittelbaren politischen oder ökonomischen Vorteil.
Immer öfter werden die Anliegen indigener Völker in politischen und kulturellen Kontexten diskutiert. Dennoch bleiben sie verwundbar, vor allem weil ihr angestammtes Land Begehrlichkeiten weckt. Um so wichtiger ist es, dass Menschen weltweit sich für die Rechte indigener Völker einsetzen und zu Fürsprechern einer fairen und gleichberechtigten Behandlung werden.
Eine Welt, in der indigene Kinder frei und mit ihren Familien auf ihrem angestammten Land und nach ihrer Entscheidung leben können, ist unverzichtbar. Es beginnt mit der Anerkennung zweier elementarer Menschenrechte: das Recht auf Land und das Recht auf Selbstbestimmung.
„Wir sind nicht unseretwegen hier. Wir sind hier für unsere Kinder und die Kinder unserer Enkel“, sagt ein Angehöriger der Buschleute aus Botswana.
© Survival International